Atheistin predigtüber Selbst- und Nächstenliebe
Bloggerin Kafi Freitag regte in ihrer Predigt zum Nachdenken über Selbst- und Nächstenliebe an und gewann damit die Herzen der Kirchgänger.
Vergangener Sonntag, kurz vor halb zehn. Die Stühle in der reformierten Kirche füllen sich schnell. Familien mit Kindern, Junge und Senioren, Frauen und Männer, 130 an der Zahl. «Nein, sonst kommen nicht so viele», sagt der sichtlich erfreute reformierte Pfarrer Lutz Fischer und fügt an: «Es war das Ziel dieses Anlasses, zusätzliche Kirchenbesucher für diesen normalen und doch irgendwie anderen Gottesdienst zu gewinnen.»
Normal wegen des traditionellen Ablaufs wie jeden Sonntagmorgen, anders wegen der Gastpredigerin Kafi Freitag. Im Interview mit der evangelisch-reformierten Zeitung «reformiert» hat die bekennende Atheistin im Vorfeld gesagt, sie habe kein Verhältnis zur Religion. Wegen ihrer Kolumne im reformierten Magazin «bref» wollte ein Aargauer Kirchenpflegepräsident gar den Zentralkassenbeitrag an die Landeskirche kürzen und erhielt Unterstützung von der SVP.
Sie trotzdem als Gastpredigerin einzuladen, zeuge von Mut und Offenheit. Das war denn auch der Grund ihrer Zusage und warum sie am Sonntag überhaupt vor einem erwartungsvollen Publikum stand, so Freitag.
Mit dem Song-Text «Das Leben bist du» von Udo Jürgens begrüsste sie die Gäste «zu meiner allerersten Predigt», wie die 40-Jährige vorausschickte. Mit ihrer witzigen, persönlichen und trotzdem tiefsinnigen Art zog sie das Publikum von Anfang an in ihren Bann. Mit vielen persönlichen Beispielen begründete sie, warum das biblische Gebot «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst» mit der Liebe zu sich selber beginne. «Selbstliebe führt zu Nächstenliebe. Menschen, die sich selber gern haben und bei sich sind, können auch andere gern haben», lautet ihr Credo. Die Lebensberaterin und Wahlzürcherin bediente sich gleich eines weiteren Verses der Bibel. Paulus’ Rat an die Galater («Was der Mensch sät, das wird er ernten») nahm Freitag zum Anlass, das Publikum dazu aufzufordern, an sich selber zu schaffen, anstatt sich über andere zu ärgern. «Wenn Sie sich jetzt gerade ärgern, warum eine Atheistin auf der Kanzel steht, könnten Sie sich fragen, was das über Ihren eigenen Glauben aussagt», fügte Freitag augenzwinkernd an.
«Ich glaube eh nicht ganz, dass du Atheistin bist», spielte Lutz Fischer-Lamprecht den Ball am Schluss des Gottesdienstes ebenfalls augenzwinkernd zurück. Doch so oder so: Für ihn ist das Wagnis, mit Kafi Freitag eine umstrittene Gastpredigerin eingeladen zu haben, aufgegangen. Die Kirche war voll, die Gäste von Freitag begeistert. «Als ich sie anfragte, wusste ich nicht, was auf uns zukommt, doch es ist bereichernd, über die Grenze zu gehen.» Sein Ziel, durch den normalen und doch nicht ganz normalen Gottesdienst zusätzliche Kirchenbesucher zu gewinnen, ist erreicht. «Schliesslich schadet es niemandem, eine Kirche von innen zu sehen.» Trotzdem will der Pfarrer künftig nicht nur zu solchen Aktionen greifen, um die Kirche zu füllen. «Aber ein, zweimal im Jahr ist in Planung.» Den Vorwurf, dass Kirchen im Allgemeinen keine zeitgemässen Themen aufgreifen, lässt er nicht gelten. «Die Kirche macht es schon, die Leute bekommen es einfach sonst nicht mit, weil sie nicht kommen.» «Die Kirche ist vielfältig, der Gottesdienst ist nur eine der vielen Aktivitäten», doppelt Kirchenpflegepräsident Roger Vog- ler nach. Er freut sich, dass dies am Sonntag durch Mut und Offenheit sichtbar geworden ist.