Asylkinder leben im Wartezustand
Die Forscherin Clara Bombach hat untersucht, wie es Kindern geht, die in Asylunterkünften aufwachsen. In Baden gab und gibt sie Einblick in ihre Forschungsarbeit und sagt: «In einem Art Wartezustand aufzuwachsen, ist ungeeignet.»
«Mir ist so langweilig, alles nervt mich», sagt Madihah. Die Sechsjährige ist eines der 44 Kinder, die Clara Bombach ein Jahr lang regelmässig in einer kantonalen Asylunterkunft besucht hat. Gesamthaft war Bombach 365 Stunden vor Ort. Sie hat sich mit den Kindern unterhalten, mit ihnen gespielt, gezeichnet, gekocht, gegessen – vor allem aber hat sie beobachtet und dokumentiert. Die 37-Jährige verbrachte nicht aus reiner Neugier oder Nächstenliebe Tage und Nächte bei den Kindern im «Camp», wie die Kinder das Asylzentrum nennen. Nein, Bombach forschte für ihre Doktorarbeit.
Die Wissenschaftlerin ist Ethnologin und Dozentin an der Berner Fachhochschule. Sie will mit dieser Studie über das Befinden der 22 Mädchen und 22 Buben von 0 bis 18 Jahren eine Forschungslücke schliessen: «Wir wissen in der Schweiz wenig über das Erleben dieser Kinder. Häufig werden die unbegleiteten Minderjährigen, die UMAs, als vulnerabel beschrieben und man denkt, dass andere Kinder durch die Anwesenheit ihrer Eltern besser geschützt sind.»
Fühlen sich verantwortlich für Eltern
Die Studie zeigt ein anderes Bild: Die Kinder nehmen wahr, dass ihre verwandten Erwachsenen selbst stark belastet sind, sich unwohl fühlen und teilweise Suizidgedanken äussern. Als Folge übernimmt ein Teil von ihnen Aufgaben und Verantwortung, die sie in diesem Alter überfordern. Andere meiden den Kontakt zu den Erwachsenen. In beiden Fällen fühlen sie sich auf sich alleine gestellt.
Zwar bekommen die Kinder in der Schweiz Nahrung und Schulbildung. «Doch das reicht nicht. Mit der Studie will ich aufzeigen, was mit den Kindern passiert, die auf engem Raum in einer Art Wartezustand ihre Kindheit verbringen», sagt Bombach. Mit jedem Besuch hätten die Kinder mehr Vertrauen gefasst und sich ihr anvertraut. Etwa, dass sich die Kinder isoliert, fremdbestimmt und von der Aussenwelt ausgeschlossen fühlen. In den Worten der 15-jährige Ayden ausgedrückt: «Da draussen ist die Schweiz.»
Am schlimmsten fanden die Kinder die fehlende Privatsphäre. In der für die Studie ausgesuchten Asylunterkunft, die nicht genannt wird, lebten 80 Personen in 26 Zimmern. Ihnen standen zwei Küchen, acht Toiletten, fünf Duschen und elf Lavabos zur Verfügung. Entsprechend gab es kaum Rückzugsorte, ruhige Momente. «Ich lag in der Nacht lange wach und konnte nicht schlafen. Es war zu laut», vertraute ihr Sami, 8 Jahre alt, an. Die Matratze sei oftmals der einzige Rückzugsort. «Einige Kinder haben sich unter dem Bett verkrochen oder Decken um ihre Matratze herum aufgehängt. Ellahas (7) Traum: «eine private Wohnung, ein normales Leben.»
UN-Kinderrechte nicht eingehalten
Mittlerweile hat Clara Bombach die Daten, die sie zwischen 2019 und 2020 erhoben hat, ausgewertet. Ihre Dissertation ist als 400-seitiges Buch unter dem Titel «Warten auf Transfer» öffentlich zugänglich. Darin kritisiert sie, dass keine Daten über Aufenthaltsdauer und -ort, über Wechsel und Alter der Asylsuchenden geführt werden. Zudem bemängelt sie, dass die UN-Kinderrechtskonvention bei dieser Gruppe von Kindern unzureichend eingehalten werde.
In ihren Handlungsempfehlungen fordert sie neben dem Erfassen der Daten auch die Erarbeitung von Mindeststandards und die Schaffung von unabhängigen Prüfungsstellen. Sie hofft, dass ihre Studie dazu führt, dass die unterschiedliche Vulnerabilität erkannt wird und entsprechende Massnahmen ergriffen werden. Ein zentraler Punkt sei, bestehende Angebote und Fachpersonen zu vernetzen, damit Übergänge fachlich begleitet und Kinder unterstützt werden. Heute führe die Ankündigung eines Transfers zu grossen Ängsten. Oftmals werde der Wechsel nach teilweise jahrelangem Warten nur einige Stunden vorher angekündigt. Es bleibe keine Zeit, um Abschied zu nehmen. Auch wenn sich die Kinder wünschen, aus dem Camp zu kommen, sei die Ungewissheit, nicht zu wissen wohin es geht, mit grosser Angst verbunden. «Einerseits hoffen sie auf positive Veränderung und die Unterbringung in einer Wohnung. Andererseits haben sie Angst, ausgeschafft zu werden, sie steigen ja in einen Kleinbus und kennen das Ziel der Reise nicht», erzählt Bombach die Gefühle der Kinder.
Schmerzhafte Begegnungen
Die Begegnungen und Erfahrungen im Camp haben auch bei Bombach etwas ausgelöst: «Es war nicht einfach, mitzuerleben, wie es den Kindern geht», sagt sie. Sie hofft deshalb sehr, dass sie mit ihrer Studie einen Beitrag zur Sichtbarkeit und Verbesserung der Situation von Kindern in Asylunterkünften leisten kann.
Gastfreundschaft erlebt
Neben all dem Schwierigen habe sie auch schöne Momente erlebt. «Etwa, wenn ich zum Essen eingeladen wurde und wir gemeinsam auf dem Teppich sassen und assen.» Oder als sie ein Mädchen in seinem späteren Daheim in einer Wohnung besuchte und es sein Zimmer zeigte und sagte: «Das ist mein Fenster, mein Bett, meine Türe, die ich selbst schliessen kann.»
Bombach fühlt sich bestätigt: «Die Kindheit in einem Wartezustand in einer Asylunterkunft zu verbringen, ist eine ungeeignete Form, aufzuwachsen.» Indem sie Vorträge hält, sich mit Politik und Verwaltung austauscht, will sie für die Problematik sensibilisieren. So wie im März in Baden, als sie von der Fachstelle Integration Region Baden eingeladen wurde und Interessierten von ihrer Forschungsarbeit erzählte. Am Flüchtlingstag, am 15. Juni, kann man Bombach erneut live in Baden erleben. Sie nimmt an einer Podiumsdiskussion mit Politikerinnen und Politikern teil.
Zahlen Asylgesuche
Gemäss Staatssekretariat für Migration (SEM) stellten im Jahr 2023 30223 Menschen in der Schweiz einen Asylantrag. 41% davon waren Minderjährige und von diesen waren 26% unbegleitet. 24% betrafen Neugeborene, 11% 0- bis 5-Jährige, 21% 5- bis 13-Jährige und 44% 14- bis 17-Jährige.
2023 gab das UNHCR die weltweite Anzahl an Menschen, die 2022 als Geflüchtete oder Vertriebene angesehen wurden, mit 108,4 Millionen Menschen an. Darunter 40% Minderjährige.
«Warten auf Transfer» ist unter
www.zora.uzh.ch veröffentlicht.