«Das Lebenswerk meiner Eltern»
Die Idee, gemeinsam in die Demokratische Republik Kongo zu reisen, entstand während der Arbeit in Neuenhof. Mehr als zehn Jahre später begleitet Peter Ackle Projektkoordinatorin Martine Giezendanner zu ihren Wurzeln.
«Auf der Hinfahrt habe ich kurz bei der Klinik in Neuenhof Halt gemacht», sagt Peter Ackle zu Martine Giezendanner, als sie zum Interviewtermin in Wettingen eintrifft. Die beiden haben elf Jahre lang in der Neuenhofer Klinik für Suchttherapie, der heutigen entero-Klinik, zusammengearbeitet. Ackle, der in Neuenhof bis 2014 eine Hausarztpraxis führte, war ärztlicher Leiter der Suchtklinik, Giezendanner leitete die Pflege. «Damals entstand die Idee, einmal zusammen in die Demokratische Republik Kongo zu reisen», sagt Ackle und fügt lachend an: «Dieses Frühjahr haben wir es endlich gemacht.»
Ackle hat Giezendanner auf ihrer alljährlichen Reise nach Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo (DR Kongo), begleitet. Für sie sind die Reisen eine Rückkehr in ihre Heimat. Die 50-Jährige hat dort ihre Kindheit verbracht. Heidi Stahel, wie ihre mittlerweile verstorbene Mutter aus Schaffhausen ledig hiess, reiste nach ihrer Lehrerausbildung nach Kongo. Dort lernte sie den Kongolesen Jean-Gilbert Kabangu Mayamba kennen. Sie heirateten, gründeten eine Familie und lebten bis zu Martine Giezendanners zweitem Geburtstag in der Schweiz. «Dann wollte mein Vater nach der Regierungsübernahme von Mobutu mithelfen, das Land aufzubauen», begründet Martine Giezendanner, wieso ihre Eltern 1975 nach Kongo zogen. Damit sie und ihre Schwestern dem europäischen Bildungsniveau entsprechend geschult wurden, unterrichtete ihre Mutter die Mädchen selbst. Es kamen Nachbarskinder hinzu, schliesslich entstand daraus die Schule «Les Gazelles» mit heute über 600 Schülerinnen und Schülern von den Kindergärtlern bis zu den Jugendlichen, die sich zum Schneider und Lehrer ausbilden lassen.
Lebenswerk ihrer Eltern
«Die Schulen waren das Lebenswerk meiner Eltern. Die Mutter bildetet alle Lehrpersonen selbst aus.» Entsprechend beansprucht sei ihre Mutter gewesen. «In der afrikanischen Kultur lebt man in einer Gemeinschaft mit Verwandten und Angestellten. So hatten wir trotzdem genug Erziehungspersonen.» Parallel dazu führte ihr Vater ein in der Schweiz erfolgreich gegründetes Bauunternehmen in Kongo weiter. Weil dort die Fachleute fehlten, eröffnete er mit einem Schweizer Freund vor Ort eine Berufsschule für Baufacharbeiter. Mittlerweile werden in der «école professionelle du bâtiment» (Eproba), wie die Schule heisst, 330 Maurer, Schreiner, Hochbauzeichner, Elektriker, Photovoltaiktechniker und Sanitärinstallateure ausgebildet.
Beide Schulen sind vom Staat anerkannt und werden von einem Verein respektive von einer Stiftung aus der Schweiz unterstützt. Martine Giezendanner-Kabangu arbeitet in einem kleinen Teilzeitpensum als interkulturelle Vermittlerin und Projektkoordinatorin in der Stiftung und reist deshalb jedes Jahr zu den Mitarbeitenden vor Ort. «Wenn ich dort bin, sehe ich die Realität und sie merken, dass wir sie nicht vergessen», sagt sie. Wenn sie dann vor Ort selbst im Verkehrschaos feststecke, habe sie plötzlich Verständnis, wieso die Afrikaner an einem Tag unmöglich an drei verschiedenen Standorten arbeiten können.
Auch für Ackle war es nicht die erste Reise in ein afrikanisches Land. Trotzdem sei er immer wieder aufs Neue fasziniert von der Offenheit und Fröhlichkeit der Bevölkerung. «Die Menschen leben sehr stark im Moment. Ohne diese Eigenschaft würden sie dort wahrscheinlich nicht überleben», sinniert er und spricht auf die Armut, Kriminalität und beschränkte Perspektiven an. Die Mehrheit lebt von weniger als 2 Dollar pro Tag, das Bruttoinlandprodukt beträgt in Kongo nicht einmal 700 Dollar pro Einwohner. Zum Vergleich: In der Schweiz lag es gemäss Bundesamt für Statistik letztes Jahr bei rund 90000 Franken pro Einwohner und wächst kontinuierlich.
Hilfe zur Selbsthilfe
Als Arzt hat Peter Ackle schon einige Hilfseinsätze gemacht und sich nach seiner Pensionierung in Tropenmedizin ausbilden lassen. «Trotzdem bin ich kritisch, was das herkömmliche Helfen betrifft. Sinnvoll finde ich, wenn die Bevölkerung zur Selbsthilfe angeleitet und ausgebildet wird. Ohne Ausbildung haben sie keine Chance, aus der Armut zu kommen.» Rund 70 Prozent der Bevölkerung seien unterernährt und können nicht lesen oder schreiben. «Teilweise obwohl sie die Staatsschule besuchten», sagte Martine Giezendanner, die hofft, dass die hohe Qualität in der Schule ihrer Mutter auch nach deren Tod weitergeht. «Mittlerweile unterrichtet die Generation, die selbst in Les Gazelles zur Schule ging und später von meiner Mutter ausgebildet wurde.»
Sie selbst wollte weder Lehrerin noch Schneiderin werden und zog für die Ausbildung mit 16 nach Europa. Ein Jahr verbrachte sie bei Freunden in Deutschland, um Deutsch zu lernen, danach zog sie für die Lehre als Fachfrau Gesundheit in die Schweiz. Und blieb. Sie heiratete, wurde zweifache Mutter, ist mittlerweile geschieden und lebt in Wohlen.
In zwei Kulturen daheim
Ihre Herkunft kam ihr beim Einsatz im Frühjahr zugute. Damit die Berufsschüler gut auf die Arbeit vorbereitet sind, wollen die Schweizer den Praxisteil erhöhen. «Ich suche eine Lösung , um unser duales System ihrer Kultur anzupassen, statt es ihnen aufzudrücken, so wie es zu Kolonialzeiten passiert ist.» Die Verhandlungen brauchen aber Geduld. «Die wichtigen Informationen erhält man in Kongo nicht an der Sitzung, sondern beim anschliessenden Essen.»
Peter Ackle, der in Ehrendingen lebt, durfte als Begleitperson an fast allen Sitzungen dabei sein. Und auch die Schulen hat er besucht und dort Schülerfragen aus der Schweiz mitgebracht. Der Pensionär beteiligt sich im Bezirk Baden beim Projekt «Senioren im Klassenzimmer». Aargauer Schüler wollten beispielsweise wissen, wann in Kinshasa die Schule beginnt. «Sie waren erstaunt, als ich ihnen erzählte, dass beim Schulbeginn um 7.30 Uhr jedes Mal die Landesfahne hochgezogen und die Nationalhymne gesungen wird.» Peter Ackle ist diese Kulturvermittlung mit seinen Schülern wichtig. Nächstes Mal wird er von einem anderen Auslandeinsatz als Arzt in Laos berichten, der im November ansteht – ohne Martine Giezendanner. «Auch wenn wir als Arbeitsteam immer noch gut funktionieren, wie die Reise gezeigt hat», sagt Martine Giezendanner und fügt lachend an: «Du kannst gerne wieder einmal mitkommen.»