«Die Eltern sind für die Erziehung zuständig, die Schule für die Bildung»
Reto Geissmann hat sein Amt als Gesamtschulleiter angetreten. Für ihn ist es ein Heimkommen und ein Herzentscheid.
Die Glocke klingelt am dritten Schultag zur ersten Unterrichtsstunde. Reto Geissmann sitzt bereits in seinem Büro im Schulhaus Zentrum 6. Eine Kollegin steht unter dem Türrahmen und gratuliert ihm zum 45. Geburtstag. Er bedankt sich, auch wenn es ihm am liebsten wäre, es wüsste niemand vom Jubiläum. «Vielleicht weil mein Geburtstag als Kind oft auf den ersten Schultag fiel und ich mir wünschte, er wäre in den Ferien.» Das ist auch als Erwachsener nicht anders. Nach der Matura liess sich Geissmann nämlich zum Oberstufenlehrer ausbilden, unterrichtete während des Studiums ein Jahr in Windisch und danach 18 Jahre an der Oberstufe Neuenhof. Er liess sich zum Schulleiter weiterbilden und leitete in den letzten vier Jahren in Windisch den Zyklus 1 – Kindergarten bis 6. Klasse. Aufs neue Schuljahr hin wechselte er als Gesamtschulleiter nach Neuenhof und ersetzt Renate Baschek, die pensioniert wurde (die Limmatwelle berichtete). Geissmann ist in Rüfenach aufgewachsen und lebt mit seiner Familie in Baden.
Was hat Sie dazu bewogen, nach nur vier Jahren als Schulleiter in Windisch nach Neuenhof zurückzukehren? Reto Geissmann: Es gefiel mir in Windisch sehr gut und ich war eigentlich zu kurz dort, sechs bis zehn Jahre fände ich in einer solchen Funktion ideal. Als die Stelle ausgeschrieben war, habe ich deshalb lange gehadert, viele Gespräche geführt und schliesslich auf mein Herz gehört. In den 18 Jahren als Lehrer in Neuenhof habe ich mich immer sehr wohlgefühlt und hier Wurzeln geschlagen. Es ist wie ein Heimkommen. Mich reizte die Ausgangslage, mit einer komplett neuen Führungscrew und dem Lehrpersonen-Team die Schule als Gesamtschulleiter weiterzuentwickeln.
Sie sprechen es an, von den bisherigen vier Schulleitern ist niemand geblieben, warum? Zwei Personen wurden pensioniert und zwei haben eine neue Herausforderung gesucht.Neu wurde ein Leiter Schulbetrieb und Prozesse angestellt.
Was ist das Ziel davon? Die administrativen Tätigkeiten von Schulleitenden nimmt extrem viel Zeit ein. Patrick Moser übernimmt mit dem Team der Schuladministration einen grossen Teil davon und sorgt zudem für eine Vereinfachung der Prozesse. Das entlastet Schulleitung und Lehrpersonen, die sich vermehrt aufs Pädagogische konzentrieren können.
Sie waren mit Leib und Seele Realschullehrer, haben in Neuenhof Schneesportlager und Integrationsprogramme eingeführt oder gingen morgens mit den Schülerinnen und Schülern joggen, um sie Durchhaltewillen zu lehren. Fehlt Ihnen die Nähe zu den Schülern als Schulleiter nicht? Doch. Lehrer ist ein wunderbarer Beruf und ich kann mir auch vorstellen, später wieder als Lehrer zu arbeiten. Die Schulzeit ist zwar aufs ganze Leben gesehen sehr kurz, jedoch für die Kinder und Jugendlichen eine sehr prägende Zeit, in der man sie als Lehrer begleiten kann. Die Nähe zu ihnen und den Lehrpersonen pflegte ich aber auch als Schulleiter, machte beispielsweise Stellvertretungen oder zeigte mich auf dem Pausenplatz. Als Lehrer liebte ich nicht nur das Unterrichten, sondern auch die Unterrichtsentwicklung. Als Schulleiter kann ich jetzt die Schule weiterentwickeln, das ist enorm spannend. Ich will Schüler, Lehrpersonen, Eltern und Behörden dazu motivieren, die anstehenden Aufgaben miteinander zu stemmen.
Wie gelingt das? Die Eltern sind für die Erziehung zuständig, die Schule für die Bildung und das soziale Lernen. Da gibt es Schnittstellen und es braucht Interesse und Entgegenkommen von beiden Seiten. Matchentscheidend ist es, die Eltern bestmöglich miteinzubeziehen, sie teilnehmen und mitwirken zu lassen. In Windisch habe ich gemeinsam mit Lehrpersonen einen Elternrat aufgebaut. Die Mütter und Väter haben in gewissen Bereichen mitgearbeitet oder kamen auf Unterrichtsbesuch. Oftmals braucht es nicht viel, um sie ins Boot zu holen.
Ist es Ihnen als Lehrer immer gelungen, eine gute Beziehung mit den Eltern aufzubauen? Nein, als Junglehrer hatte ich grossen Respekt vor den Eltern und habe sie zögerlich miteinbezogen. Ich begleitete einen Schüler zwei Jahre lang in der Berufswahl und hatte das Gefühl, er habe sein Berufsfeld gefunden, und unterstützte ihn beim Bewerben. Eines Morgens kam er und sagte, seine Eltern wollten nicht, dass er diesen Beruf lerne. Er musste sich neu orientieren und es war zu spät, eine andere Lehrstelle zu finden. Ich musste mir vorwerfen, die Eltern zu wenig miteinbezogen zu haben. Das war ein Schlüsselmoment, in dem ich erkannte, wie wichtig die Eltern sind. Sie dürfen eine andere Auffassung haben, was für ihr Kind am besten ist. Wichtig ist, sie gemeinsam zu bearbeiten. Wäre mir das gelungen, wäre es fürs Kind positiv herausgekommen.
Der Status des Berufs wird je nach Kultur anders gewertet. Inwiefern beeinflusst der hohe Ausländeranteil und das damit verbundene unterschiedliche Kulturverständnis an der Schule Neuenhof die Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus? Der Umgang mit dieser kulturellen Vielfalt ist sehr anspruchsvoll, aber wenn er gelingt, ist die Vielfalt sehr bereichernd und für alle positiv. Die Kulturunterschiede zeigen sich beispielsweise am ersten Schultag: Viele Eltern begleiteten ihre Kinder, sie haben sich schön angezogen und zelebrierten den Schulanfang mit den Kindern. Das gab es in Windisch weniger. Alle Eltern bringen aus ihrer Kultur Vorstellungen mit, wie ein Schulsystem funktioniert. Einige finden beispielsweise, man könne nur mit einem Bezirksschulabschluss beruflich erfolgreich werden. Es ist wichtig, dass auch diese Eltern die Ressourcen ihres Kindes erkennen und realistisch einschätzen, auf welcher Schulstufe sie sich am besten entwickeln können.
Wie schafft man das? Indem man auch die Kinder in die Verantwortung nimmt, sie daheim zeigen lässt, was sie können und wo sie noch daran arbeiten müssen. Jedes Kind hat Kompetenzen und Defizite. Als Lehrer versuchte ich, die Perlen herauszuschälen, sie ihre Ressourcen entdecken zu lassen und zu pushen, damit sie diese entfalten können. Ich habe sie nicht nur «gehütet», sondern etwas abverlangt. Entscheidend finde ich auch, dass die Kinder lernen, konstruktiv mit ihren Defiziten umzugehen. Das Ziel beim Joggen war, die eigene Leistung zu steigern und diesen Erfolg dann zu feiern. Auch wenn sie unter der Leistung eines anderen lag.
Als Schulleiter wollen Sie die Ressourcen der Lehrpersonen fördern. Lässt der Lehrplan 21 noch Spielraum, besondere Fähigkeiten im Unterricht einzubringen, oder ist die Gestaltung strikt vorgegeben? Ich finde, der Lehrplan 21 gibt viel Autonomie. Man muss Ziele nicht mehr in einem Schuljahr erreichen, sondern pro Schulzyklus. Lehrpersonen der Oberstufe haben also drei Jahre Zeit.
18 Jahre lang waren Sie Lehrperson, jetzt kehren Sie in der Rolle als Gesamtschulleiter zurück und sind nun Vorgesetzter Ihrer ehemaligen Lehrerkollegen. Wie schaffen Sie diesen Wechsel? Schon als Lehrperson hatte ich verschiedene Funktionen und Fachverantwortungen. Unterschiedliche Hüte zu tragen, ist mir meist gut gelungen. Mit den Direktbetroffenen habe ich darüber gesprochen und bei meiner Vorstellung offen kommuniziert und gebeten, bei Irritationen auf mich zuzukommen. Selbstreflexion ist wichtig, genauso wie die Aussenwirkung zu erfahren. Ich will nicht, dass ein Filz entsteht.
Als Schulleiter sind Sie nun auch fürs Personal zuständig. Konnten alle Stellen besetzt werden? Für die Besetzung der Stellen sind in erster Linie meine Schulleitungskolleginnen und -kollegen Fabio Fräfel, Lea Wälchli und Katrin Scholer verantwortlich. Es ist ihnen gelungen, alle Stellen auf Beginn des Schuljahres zu besetzen. Es hat aber einige Lehrpersonen, die noch in Ausbildung sind, und solche, die keine adäquate Ausbildung haben. Ich habe den Anspruch, dass alle Lehrpersonen an unserer Schule eine adäquate Ausbildung haben. Im Moment ist die Umsetzung aufgrund des Lehrermangels nicht möglich. Umso wichtiger ist es, diese Personen zu motivieren, sich das fehlende Theoriewissen zu holen. Die Quereinsteiger sind wichtig, bringen ganz viel Fachressourcen mit, sind motiviert und verfügen über eine hohe Sozialkompetenz. Deshalb wurden sie angestellt. Trotzdem füllt die Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule den Rucksack mit ganz viel Theorie, die für die Praxis wichtig ist und zum nötigen Selbstvertrauen für das professionelle Tun beiträgt.
Wie lösen Sie diese Herausforderung, bis die Personen ausgebildet sind? Diese Herausforderung kann ich als Gesamtschulleiter unmöglich allein bewältigen. An unserer grossen Schule mit rund 130 Lehrpersonen haben wir zum Glück viele erfahrene, ausgebildete Lehrkräfte, die als Coaches ihre Kolleginnen und Kollegen unterstützen. Darüber hinaus übernehmen die Zyklen-Schulleitungen eine wichtige Rolle bei der pädagogischen Begleitung durch Unterrichtsbesuche und Mitarbeitergespräche. Letztlich sind wir auch darauf angewiesen, dass die betroffenen Mitarbeitenden Eigeninitiative zeigen und sich weiterbilden möchten.
Zu Ihrer Aufgabe gehört nun auch die Schulentwicklung, wie lautet das Ziel? Neuenhof hat ein gutes Leitbild mit greifbaren Sätzen. Nun gilt es, diese Sätze zum Leben zu bringen. Die neu zusammengesetzte Schulleitung wird konsolidieren, um Prioritäten zu setzen. Wir wollen nicht nur verwalten, sondern Prozesse gestalten und handeln. Die beiden Schulleiterinnen der Zyklen 2 und 3 waren bereits in gleicher Funktion an der Schule Wettingen tätig, während der Schulleiter des Zyklus 1 ausgebildeter Heilpädagoge ist und in Neuenhof zusätzlich die Fachverantwortung für die Förderung übernimmt. Aus meiner Sicht habe ich ein Traumteam und freue mich extrem auf die Arbeit als Gesamtschulleiter.