«Wir sind mehr als eine Ausleihstation»

Für fast jedes zweite Kind in Wettingen ist Deutsch nicht die Muttersprache. Um allen Kindern einen guten Grundstein für die Schule zu geben, engagiert sich die Bibliothek Wettingen seit langem für die frühe Sprach- und Lese­förderung.

Ende 2023 zählte Wettingen erstmals einen Ausländeranteil von mehr als 30 Prozent. Das macht sich im Kindergarten und in der Schule bemerkbar. «Für fast jedes zweite Kind in Wettingen ist Deutsch nicht die Muttersprache. Das ist ein Problem beim Schulstart. Kinder weisen zunehmend sprachliche Defizite auf und das Leseverständnis leidet», sagt Katrin Diab. Die langjährige Bibliothekarin und ihre Kollegin Claudia Knecht, ebenfalls seit vielen Jahren im Dienst der Bibliothek Wettingen, setzen sich seit einiger Zeit mit diversen Projekten für die frühkindliche Sprach- und Leseförderung ein. Sie sind überzeugt: «Wer die Sprache gut beherrscht, auch die Muttersprache, hat es in der Schule leichter und gerät weniger in Gefahr, an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden.» Den beiden ist es eine Herzensangelegenheit, dass alle Kinder die gleichen Bildungschancen haben. «Die Bibliothek leistet einen wichtigen Beitrag für den sprachlichen Grundstein für Schule und Laufbahn», finden die Bibliothekarinnen.

Der Aufwand und das Engagement der Bibliothek würden jedoch leider immer noch zu wenig wahrgenommen und das Angebot zu wenig genutzt, so Katrin Diab. Es benötige viel Geduld, das Zielpublikum in die Bibliothek zu holen. «Vor allem bei Familien mit Migrationshintergrund spüren wir eine Hemmschwelle, bei uns vorbeizukommen», sagt Diab. Vielfach, weil die Leute denken, dass das Betreten und Ausleihen etwas koste. «Bis zum Alter von fünf Jahren ist die Ausleihe gratis. Kinder ab sechs Jahren und Jugendliche bis zum 18. Altersjahr zahlen einmalig 5 Franken für die Einschreibegebühr. Und auch sonst sind viele Angebote und Anlässe gratis», versichert Knecht. Das Fernbleiben der Bibliothek könne auch kulturell bedingt sein, vermuten die Bibliothekarinnen. «Geschichten erzählen und lesen ist nicht überall gleich verwurzelt wie hier in der Schweiz.»

Bibliothek rekrutiert Animatorinnen

Eine weitere Herausforderung: Um Fördergelder vom Kanton zu erhalten, müssen sie Gesuche stellen und Rechenschaft über die Projekte beispielsweise in Form von Zwischen- und Jahresberichten abgeben. «Das ist ein grosser administrativer Aufwand», sagt Diab. Hinzu kommen die Rekrutierung von Animatorinnen und Animatoren, die Koordination der Termine und das Bewerben der Anlässe auf verschiedenen Kanälen.

Trotz der anspruchsvollen Ausgangslage haben sich diverse Projekte und Veranstaltungen bewährt. So etwa das Projekt Buchstart, das von Bibliomedia Schweiz und dem Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien 2008 initiiert wurde und bei den Kleinsten ansetzt. Für jedes in der Schweiz geborene Kind steht ein solches Buchstartpaket bereit, das aus zwei Büchern und einem Informationsflyer in 18 Sprachen für die Eltern besteht. «Die Kommunikation zwischen den Eltern und dem Kleinkind ist für die sprachliche Entwicklung sehr wichtig und wird mit dem Projekt gefördert. Eltern ermöglicht es, ihre Kinder altersgerecht in die Welt der Bücher und des Lesens zu begleiten», sagt Knecht. Im Rahmen des Buchstartpakets organisiert die Bibliothek Wettingen fünfmal den Anlass «Lirum Larum Verslispiel» mit einer Leseanimatorin für Kinder bis drei Jahre.

Ein weiteres Projekt, das die Bibliothek Wettingen unterstützt, nennt sich «Family Literacy – Schenk mir eine Geschichte». «Es richtet sich an Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren, die mehrsprachig aufwachsen», erzählt Knecht. Im Bücherangebot der Bibliothek Wettingen finden sich in diesem Zusammenhang Medien in diversen Sprachen, so etwa in Russisch, Ukrainisch, Spanisch, Portugiesisch, Arabisch oder Englisch. Auch dieses Projekt ist an Veranstaltungen mit Leseanimation gebunden. Im Fokus in der Wettinger Bibliothek stehen die Sprachen Italienisch, Türkisch, Serbisch sowie Albanisch.

Auch die Mundart soll bei den vielen Fremdsprachen nicht vergessen gehen. «An Anlässen des Projekts Gschichte-Chiste werden Kindern ab drei Jahren mit Begleitperson interaktive Geschichten auf Schweizerdeutsch erzählt», sagt Diab. Ein weiterer Anlass, der junges Publikum in die Bibliothek locken soll, ist «Kamishibai». «Dabei handelt es sich um ein japanisches Bildtheater. Im Anschluss daran wird mit den Kindern gebastelt», erklärt Knecht. Ihr und Diab ist es wichtig, dass bei all diesen Anlässen die Eltern eine aktive Rolle einnehmen. «Sie geben ihre Kinder nicht einfach in der Bibliothek ab und warten auf dem Sofa aufs Handy starrend, bis der Anlass zu Ende ist. Sie sollen die Kinder beim Erforschen der Bücher und der Sprache begleiten», sagen die beiden. Lesen sei etwas Verbindendes und Emotionales. «Indem sich Eltern für ihre Kinder Zeit nehmen, erfahren diese Wertschätzung. Lesen wird als etwas Positives wahrgenommen. Das hilft im späteren Leben.»

Freiwillige lesen mit Schülern

Besonders am Herzen liegt Diab und Knecht das Projekt Lesetandem, das auf Kinder ab sieben bis elf Jahre zugeschnitten ist, die gerne besser lesen lernen möchten. «Auf freiwilliger Basis engagieren sich Privatpersonen als Lesementorinnen und Lesementoren. Während eines ganzen Schuljahres treffen sie sich regelmässig mit den Kindern in der Bibliothek, um gemeinsam zu lesen», so Knecht. Die Bibliothek sucht Freiwillige, nimmt Anmeldungen entgegen, teilt die Lesetandems ein und stellt Material sowie Medien für die Lesestunden bereit. «In diesem Generationenprojekt können Erwachsene den Kindern ihre Liebe für die Sprache weitergeben. Die Mentorinnen und Mentoren können sich in einem zweitägigen Kurs weiterbilden und auf die Aufgabe vorbereiten. Sie erfahren zum Beispiel, welche Texte, Spiele und Ideen sich zur Leseförderung eignen», erzählt Knecht. Überdies würden sie Nützliches zur Gestaltung intellektueller Begegnungen erfahren oder wie sie mit den Kindern Vorlesen trainieren. Aktuell gibt es elf Tandempaare. 2017 startete die Bibliothek Wettingen mit drei. «Es ist schön, wenn sich zwei finden, die harmonieren. Die Kinder bauen zu den Erwachsenen eine Beziehung auf und können auch mal über Privates schwatzen», sagt Knecht.

Mit all diesen Projekten und Bemühungen leistet die Bibliothek Wettingen einen grossen Beitrag für die Integrations- und Sprachförderung. «Wir sind mehr als eine Ausleihstation für Medien», sagt Diab und Knecht ergänzt: «Es wäre schön, wenn unser Einsatz für die Gesellschaft mehr anerkannt würde. Das würde uns noch mehr Motivation geben.»

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