«Die Schule muss ernst nehmen, was die Gesellschaft bewegt»

Ein knappes Dutzend Kinder aus der kantonalen Asylunterkunft Untersiggenthal soll jeweils am Freitagmorgen Einblick ins hiesige Schulsystem der Würenloser Schule bekommen. Im Interview erklären die Schulleiterin und der Schulleiter wieso.

Schulleitungsteam Claudia Stadelmann (Kindergarten, Primar-/Unterstufe) und Lukas Müller (Primar-/Mittelstufe,Real- und Sekundarstufe).Foto: bär
Schulleitungsteam Claudia Stadelmann (Kindergarten, Primar-/Unterstufe) und Lukas Müller (Primar-/Mittelstufe,Real- und Sekundarstufe).Foto: bär

Sie haben die Eltern Anfang Februar im Semesterschreiben darüber informiert, dass die Schule Würenlos zum Flüchtlingsthema aktiv wird und Sie eine Zusammenarbeit mit dem Asylheim in Untersiggenthal anstreben. Was genau haben Sie vor? Lukas Müller: Unsere Idee ist, alle zwei Wochen am Freitagmorgen rund zehn Kinder und Jugendliche aus der Asylunterkunft Untersiggenthal an unserem normalen Schulunterricht teilnehmen zu lassen. Pro Klasse wird maximal ein Kind teilnehmen, damit der Fokus nicht aufs Kind fällt. Es gibt auch kein Spezialprogramm, sondern geht darum, ihnen einen Einblick in unser alltägliches Schulsystem zu geben.

Claudia Stadelmann: Den Kindern sollen die Türen in unsere Kultur geöffnet werden. Auch unsere Schülerinnen und Schüler profitieren, indem sie etwas über das Anderssein lernen. Passend zum Jahresthema der Schule, das unter dem Motto Kulturen läuft und sich mit der eigenen Herkunft und dem Anderssein befasst. Wir wollen eine Brücke bauen. Schliesslich funktioniert die Gesellschaft durch Gemeinschaften – eine davon ist die Schule – und nicht durch Ausgrenzung.

Wie ist diese Idee entstanden? Stadelmann: Am Tag des Kindes besuchte eine Oberstufenklasse die Asylunterkünfte in Untersiggenthal und Neuenhof (Anm. d. Red.: die Limmatwelle berichtete, 48/15). Die Kinder und Lehrpersonen wünschten sich danach, weiter aktiv zu bleiben.

Wie kommen die Kinder nach Würenlos? Müller: Selbstständig mit dem Bus. Die Kosten werden von Spendern übernommen, die sich bei uns gemeldet haben und helfen wollten, nachdem sie vom Projekt gehört hatten.

Wann startet das Projekt? Stadelmann: Wir wollten nach den Frühlingsferien starten. Es zögert sich nun aber hinaus, da die Kinder, die fürs Projekt vorgesehen waren, grösstenteils bereits von der Erstaufnahmestelle in Untersiggenthal in andere Gemeinden umziehen. Es sollen Kinder sein, die die deutsche Sprache schon ein bisschen beherrschen und nicht erst angekommen sind.

Warum kommen Kinder aus der kantonalen Asylunterkunft von Untersiggenthal und nicht von der näher gelegenen in Neuenhof? Müller: Es wurde uns von der Stiftung Netzwerk Asyl Aargau empfohlen. In Untersiggenthal leben die Familien abgeschottet ausserhalb des Dorfes. Die Kinder haben Montag bis Donnerstag zwei Stunden Schulunterricht, ansonsten sind sie nicht beschäftigt.

Werden die betreffenden Lehrpersonen vorher geschult? Stadelmann: Das ist nicht nötig, da es uns nicht um die Integration geht, sondern darum, den Kindern ein Stück Schweizer Normalität zu zeigen. Im Wissen, dass sie auf der Durchreise sind.

Müller: Die Schule ist sich bewusst, dass aufgrund des Asylthemas Veränderungen auf sie zukommen werden und wir irgendwann auch Flüchtlingskinder an unserer Schule unterrichten. Für uns ist dieses Projekt eine Chance, nun erste Kontakte zu knüpfen und Erfahrungen zu sammeln.

Musste das Projekt bewilligt werden? Ja, der Kanton hat uns die Bewilligung dafür erteilt. Wir wurden von der Stiftung Netzwerk Asyl Aargau beraten und begleitet.

Das Flüchtlingsthema wird kontrovers diskutiert. Ist es nicht heikel, sich als Schule in ein politisches Thema einzuschalten? Stadelmann: Für uns ist es kein politisches, sondern ein menschenbildendes Thema. Im Unterricht werden Pro und Kontra aufgezeigt, sodass sich die Kinder ihr eigenes Bild machen können. Es geht absolut nicht um Manipulation, wenn man Kindern die Situation vor Ort aufzeigt. Daneben wird ihnen ja auch der geschichtliche Aspekt vermittelt: Wie ist die Situation entstanden und warum ist sie heute so? Das ist Menschenbildung und somit Auftrag der Schule.

 

Müller: Es ist auch kein heikles Thema, sondern ein Thema, das zum Lehrauftrag gehört. Wir werden deswegen nicht politisch aktiv. Eine Schule soll nicht die Augen vor dem verschliessen, was in der Welt Tragisches passiert, sondern muss ernst nehmen, was die Gesellschaft bewegt. Die Schule ist keine Insel und wir ziehen keine Scheuklappen an. Wir lassen uns auch keine aufsetzen.

Stadelmann: Das Thema Kulturen ist an unserer Schule sowieso präsent, da wir Schüler aus vielen verschiedenen Nationen unterrichten. Auch wenn sie teilweise eingebürgert worden sind, bringen sie den kulturellen Hintergrund, eine Geschichte, mit sich.

Birgt die Zusammenarbeit mit dem Asylheim in Untersiggenthal nicht die Gefahr, dass man das Thema tendenziös behandelt? Stadelmann: Nein, weil die Lehrpersonen ihre Verantwortung kennen und sich ihrer Aufgabe bewusst sind. Das Thema wird stufengerecht aufgegriffen. In der Oberstufe beispielsweise im Rahmen des Geschichtsunterrichts oder im Klassenrat. Die jüngeren Schüler stellen Fragen und wollen mehr dazu wissen. Es hat aber alles Grenzen, sodass manche auch an ihre Eltern verwiesen werden, wenn es den Rahmen sprengt.

Müller: Unsere Lehrpersonen arbeiten tagtäglich an der Front und kennen das Glatteis. Der Vorteil unseres Fachlehrersystems ist zudem, dass wir unter den Lehrpersonen Fachpersonen haben, die sich stark für Geschichte interessieren und das Fach unterrichten. Das Thema wird auch im Kollegium diskutiert und darüber ausgetauscht. Wenn ein Thema von der gesamten Schule übergeordnet aufgegriffen wird, stellen wir den Lehrpersonen auch Hintergrundinfos und Fachmaterial dazu zur Verfügung.

Der SVP-Ortspräsident hat sich in einem Leserbrief kritisch dazu geäussert und eine starke politische Motivation eines Teils der Lehrerschaft in den Raum gestellt. Was tun Sie als Schulleitung, um das zu verhindern? Müller: Es stimmt nicht, dass eine politische Motivation dahintersteckt. Wie schon erwähnt, sind sich die Lehrpersonen der Verantwortung bewusst und können damit umgehen.

Stadelmann: Es werden auch nur in denjenigen Klassen Kinder aufgenommen, in denen sich die Lehrpersonen dazu bereit erklärt haben, die sich das zutrauen und mit der Thematik auseinandergesetzt haben.

Sehen Sie die im kantonalen Schulgesetz geregelte politische und konfessionelle Neutralität nicht tangiert? Müller: Nein, sonst könnten wir auch ganz viele andere Projekte wie die Mithilfe am Altersnachmittag oder am Clean-up Day nicht mehr machen.

Sie haben die Eltern via Semesterschreiben über das Projekt informiert. Haben Sie Reaktionen erhalten? Müller: Es meldeten sich zwei Personen, die es unterstützen möchten und uns ihre Hilfe anboten. Dann gab es noch die kritische Äusserung im Leserbrief. Ansonsten erhielten wir keine Reaktionen. Wir haben eigentlich damit gerechnet, dass nachgefragt wird, das wurde nicht gemacht.

Stadelmann: Wir wollten die Eltern mittels Semesterschreiben proaktiv flächendeckend vorinformieren. Eltern derjenigen Klassen, die Besuch eines Kindes erhalten, werden vorher noch detaillierter informiert.

Wann rechnen Sie mit den ersten Kindern? Das ist schwer zu sagen. Wir warten auf den Bescheid aus Untersiggenthal. Sobald Leitung und Lehrpersonen wieder Kinder und Jugendliche haben, welche sie als geeignet ansehen, melden sie sich bei uns. Die Schule Würenlos ist vorbereitet.

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