So gehen zwei Limmattaler Familien mit der Krankheit ihrer Kinder um
Der Alltag des Würenloser SVP-Politikers Thomas Zollinger und seiner Familie wird von der seltenen Krankheit von Sohn Filipp bestimmt. Er leidet an einer genetischen Anomalie. Ein ähnliches Schicksal teilt Leonardo Catalano aus Wettingen.
Filipp strahlt übers ganze Gesicht, als er die Tür öffnet. «Er wartet schon seit 8 Uhr morgens auf Ihren Besuch», begrüsst Filipps Mutter Letizia Zollinger die Redaktorin beim Eintreten. Auch Filipps drei Geschwister Robin (13), Ladina (12) und Madlaina (6) springen herbei. Vater Thomas Zollinger sitzt am Esstisch und winkt zum Empfang. Auf den ersten Blick scheinen die Zollingers aus Würenlos eine normale Familie zu sein. Doch beim Gespräch wird schnell klar, dass ihr Alltag aus vielen Herausforderungen besteht. Der zehnjährige Filipp hat eine seltene genetische Anomalie, die Ringchromosom 18 genannt wird.
«Die primäre Diagnose kurz nach der Geburt war ein Herzfehler. Weil dieser oft mit genetischen Erkrankungen einhergeht, wurden weitere Abklärungen vorgenommen und uns schliesslich diese Diagnose gegeben», erzählt Letizia Zollinger. «Als wir einen fünfseitigen Bericht der Genetikabteilung des Unispitals erhielten, was diese Anomalie bedeuten könnte, brach für uns eine Welt zusammen», erinnert sie sich. Nur gerade 100 gleiche Fälle seien auf der Welt bekannt, Erfahrungen zum Krankheitsverlauf und zur Behandlung würden fehlen.
Bei der Kommunikation mit der Familie hilft ein Tablet
Die Familie musste Schritt für Schritt selbst herausfinden, was diese Krankheit für Auswirkungen hat. «Filipp ist in seiner Entwicklung im Rückstand, er hat zum Beispiel erst mit zwei Jahren zu gehen begonnen», erklärt Thomas Zollinger, der sich in Würenlos als Präsident der SVP-Ortspartei und als Präsident der Finanzkommission politisch engagiert. Hinzu kamen Probleme mit der Haut, welche sich fleckenförmig entfärbt. Filipp leidet an der Weissfleckenkrankheit. Zudem hat er Schwierigkeiten mit den Augen und den Ohren. Sprechen tut er, jedoch versteht die Familie ihn manchmal nicht. «Seit einem halben Jahr besitzt Filipp ein Tablet, das ihm bei der Kommunikation mit uns hilft», sagt Letizia Zollinger und zeigt auf das Gerät. Er könne damit verschiedene Icons antippen, um so Sätze zu bilden. «So wissen wir zum Beispiel, was er morgens zum Frühstück will.»
Filipp weist überdies autistische Züge auf. Diese bestimmen mehrheitlich den Alltag der Familie. «Am Abend müssen wir mit ihm den Ablauf des kommenden Tages durchgehen. Weicht etwas von diesem Programm ab, hat Filipp grosse Mühe», erzählt seine Mutter. Spontanität sei nicht möglich. Das zeige sich etwa beim Lebensmitteleinkauf. «Ich muss Filipp genau sagen, wie viele Produkte wir einkaufen. Zudem gehen wir immer denselben Weg durch den Laden. Wenn wir bereits in der Molkereiabteilung sind, kann ich nicht wieder zurück in die Gemüseabteilung, wenn ich etwas vergessen habe», erklärt Letizia Zollinger. Seit der Geburt ihres dritten Kindes hat sie aufgehört zu arbeiten. «Es ging nicht mehr. Filipp fordert sehr viel Aufmerksamkeit.» Zeitintensiv seien überdies die Termine bei den verschiedensten Spezialisten, Ärzten und Therapeuten. «Der ganze Tagesablauf richtet sich danach und nach Filipps Bedürfnissen», so Thomas Zollinger. Finanziell sei man glücklicherweise in einer guten Lage, sodass er als Alleinverdiener für die sechsköpfige Familie aufkommen könne. «Stiftungen wie etwa Pro Infirmis helfen uns ebenso. Wir sind froh, dass wir nie um die Unterstützung der IV kämpfen mussten», fügt er an. Nichtsdestotrotz sind die bürokratischen Hürden hoch. «Weil Filipp eine seltene Krankheit hat, müssen wir jedes Gebrechen einzeln anmelden», sagt Letizia Zollinger.
Dank des Wocheninternats kommen die drei Geschwister nicht zu kurz
Seit zwei Jahren besucht Filipp die Schule der St.-Joseph-Stiftung in Bremgarten und wohnt dort im Wocheninternat. «Er hat erstaunlich gut darauf reagiert und schnell Anschluss gefunden. Für beeinträchtigte Kinder ist es schwer, Freundschaften aufzubauen. Das kann er dort und wir sehen, wie gut er sich entwickelt und wie viele Fortschritte er macht», sagt Letizia Zollinger. Sie weiss ihren Sohn dort in sicheren Händen, auch weil es eine Abteilung für medizinische Dienste und verschiedene Therapiemöglichkeiten gibt. Filipps Wochenaufenthalt in Bremgarten verschafft der Familie Zeit, Energie zu tanken, um sich am Wochenende voll ihrem Energiebündel zu widmen. Überdies können sich die Eltern von Montag bis Freitag um ihre anderen drei Kinder kümmern. «Uns ist wichtig, dass sie nicht zu kurz kommen. Am Wochenende bestimmt Filipp den Takt, daher sind wir froh, dass wir so auch Zeit haben, mal an einen Fussballmatch zu gehen oder ihnen bei den Hausaufgaben zu helfen», sagt Thomas Zollinger. Der Ausgleich und kleine Auszeiten für sich selbst beim Joggen oder der Kontakt mit Freunden seien wichtig, damit man alle Herausforderungen stemmen könne.
Dankbar ist das Ehepaar auch, dass es auf die Hilfe von Verwandten und Bekannten zählen darf. «Ich rate allen, die in einer ähnlichen Lage wie wir sind, Hilfe anzunehmen. Man muss das nicht alles allein schaffen», sagt Letizia Zollinger. Und trotz des grossen Verzichts, den Filipps Krankheit fordert, investieren sie und ihr Mann gerne ihre Zeit in ihren Sohn. «Es gibt so viele schöne Momente. Filipp ist ein fröhliches Kind. Wenn wir unterwegs sind, spricht er Leute an und bringt sie zum Lachen», sagt Letizia Zollinger. Sie und ihr Mann wünschen sich für ihren Sohn ein zufriedenes und möglichst selbstständiges Leben mit einer Aufgabe, die ihm Freude bereitet.
Leonardo wird beatmet und muss ständig überwacht werden
Von einer seltenen Krankheit geprägt ist auch der Alltag der Catalanos aus Wettingen. Die fünfköpfige Familie besteht aus Mutter Anita, Vater Maurizio, Alessandra (11) und den Zwillingen Michele und Leonardo (9). Leonardo ist 14 Minuten jünger als sein Bruder und das Sorgenkind der Familie. Er weist eine Deformation auf dem TPM3-Gen auf und leidet deswegen an einer autosomal dominanten Myopathie mit zentraler Bewegungsstörung. «Leonardos fehlende Rumpfstabilität wirkt sich neben der Einschränkung in der Mobilität auch auf die Atmung aus. Er hat eine Trachealkanüle und wird teilweise invasiv beatmet», sagt seine Mutter Anita Catalano. Das bedeutet, dass ihr jüngster Sohn dauernd überwacht und abgesaugt werden muss. «Schlucken kann Leonardo nur erschwert. Er isst zwei Mahlzeiten pro Tag über den Mund, darüber hinaus ernährt er sich über eine Sonde.» Dass mit ihrem Kind etwas nicht stimmt, merkte Catalano kurz nach der Geburt. «Leo trank so langsam, dass er oft noch nicht fertig war, als Michele bereits wieder Hunger verspürte», erinnert sie sich. «Was Michele an Körperspannung zu viel hatte, hatte Leo zu wenig.» Und so erhielten die Zwillinge Physiotherapie. «Michele entwickelte sich gut, während Leo schlapp blieb. Er lag oft mit allen vieren von sich gestreckt auf dem Rücken so wie ein Frosch», erzählt Catalano. Als er sich dann auch noch bei jeder Mahlzeit übergab, musste sie etwas unternehmen. Leonardo wurde knapp fünf Monate alt ins Kantonsspital Baden eingeliefert. Die Odyssee begann: Bronchitis, Gewichtsabnahme und schlechter Allgemeinzustand, Magensonde, Sauerstoff, Intensivstation. «Die Ärzte führten Abklärungen durch, immer wieder neue Krankheiten und Namen wurden genannt. Wenn ich danach googelte, erschrak ich. Doch die Diagnosen wurden immer wieder verworfen. Niemand wusste, was Leonardo fehlt.» Hinzu kamen Infekte und schlechte Werte.
Als die Mediziner in Baden mit ihrem Latein am Ende waren, wurde der Kleine notfallmässig mit der Rega ins Kinderspital nach Zürich geflogen. Das Bangen um Leonardos Leben ging weiter. «Wir pendelten zwischen Säuglings-, Intensiv- und Isolationsstation. Es war Horror», erzählt Catalano. Sie wachte tagsüber am Bett ihres Sohnes, abends löste ihr Mann Maurizio sie nach der Arbeit ab. Zuhause kümmerte sich ihre Mutter um die beiden anderen Kinder. Neben den Sorgen um Leonardos Gesundheit plagte die Eltern das schlechte Gewissen. «Egal wo du bist, ob im Spital oder daheim, du lässt immer mindestens ein Kind im Stich.» Man habe einfach funktioniert und gar nicht überlegt. «Im Nachhinein hab ich mir schon gedacht, läck, das haben wir fast neun Monate lang durchgemacht.»
Die Krankheit hat keinen Einfluss auf seine geistige Entwicklung
Als Leonardo nach Hause kam, musste die Familie das Daheim nach den Bedürfnissen ihres jüngsten Kindes einrichten – alle Geräte für die Beatmung, das Absaugen und die Ernährung mussten vor Ort sein. Die Catalanos bauten das Beatmungsgerät im Spital ab und zuhause auf. Unterstützung zuhause erhalten die Catalanos seitdem von der Kinderspitex. «Ich bin auf diese Entlastung angewiesen, wenn ich auch mal Zeit mit meinen anderen Kindern verbringen will.» Leonardo besucht mittlerweile das zweite Jahr der Einführungsklasse an der Primarschule. Auf seine geistige Entwicklung wirkt sich die Krankheit nicht aus. «Er schreibt gute Noten und ist ein guter Schüler. Es ist schön, dass er im normalen Schulalltag integriert wird», sagt seine Mutter. Auch sonst hat die Familie einen Weg gefunden, mit Leonardos Erkrankung umzugehen. Sie kann dank der Hilfe des Kinderhospizes sogar verreisen. Leonardo macht Fortschritte. 2017 ging er seine ersten Schritte und begann zu sprechen. «Mama» war sein erstes Wort. Für seine Mutter ein schöner Moment. «Leo braucht Kraft, damit die Luft an der Kanüle vorbei an die Stimmbänder gelangt. Ein Arzt sagte, ich würde seine Stimme nie hören», so Catalano. In die Zukunft schauen ist für die Familie fast unmöglich. Catalano sagt: «Wir leben im Jetzt. Es bringt nichts, uns zu fragen, wie es Leo in 10 Jahren geht. Das hält uns nur davon ab, die schönen Momente in der Gegenwart zu geniessen.»
Seltene Krankheiten sind nicht selten
8000 seltene Krankheiten weltweit sind bekannt, nur gerade fünf Prozent davon sind erforscht. Jährlich kommen ungefähr 200 neue seltene Erkrankungen hinzu. In der Schweiz gibt es rund 350000 betroffene Kinder und Jugendliche. Eine solche Diagnose wirbelt das Leben betroffener Familien durcheinander, zerstört Träume, Lebensentwürfe, Berufskarrieren und Beziehungen. Die Krankheit ist nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch für die Eltern, Geschwister und Grosseltern eine grosse psychosoziale und finanzielle Herausforderung.
Der gemeinnützige Förderverein Kinder mit seltenen Krankheiten setzt sich seit 2014 für betroffene Familien ein und zählt gegen 665 Mitgliederfamilien. Er ermöglicht finanzielle Direkthilfe, um Therapien, Gerätschaften, Material, Unterstützung oder Entlastungsmöglichkeiten zu bezahlen, um so den Familien mehr Lebensqualität zu schenken. Seit der Gründung vor 8 Jahren hat er rund 1,8 Millionen Franken ausbezahlt. Überdies veranstaltet der Verein kostenlose Familienanlässe, um betroffene Familien zu vernetzen und ihnen eine Auszeit zu verschaffen. Auf der Selbsthilfegruppe des Fördervereins auf Facebook tauschen sich fast 600 betroffene Mütter und Väter aus. Bereits zum vierten Mal hat der Verein ein Wissensbuch herausgegeben, das Einblicke in das Leben betroffener Familien gibt und Experten zu Wort kommen lässt. Überdies lancierte er vor kurzem mit der Sozialpädagogin Melanie Spescha das interaktive Kinderbuch «Inklusion – Keiner zu klein, ein besonderer Freund zu sein» über Freundschaft und Behinderung.
Ein weiteres Ziel des Vereins ist die nachhaltige Förderung von Inklusion in Kitas, Kindergarten, Schule und in die Gesellschaft. Aktuell widmet sich der Verein dem Aufbau einer Informationsplattform mithilfe der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Winterthur. Die Website soll Ende Oktober aufgeschaltet werden. Anlässlich des internationalen Tags der seltenen Krankheiten am Montag, 28. Februar, organisiert der Förderverein zudem ein Wissensforum für betroffene Familien und Interessierte. Der Anlass findet am 26. Februar um 11.15 Uhr erstmals per Live-Streaming statt. Weitere Infos gibt es unter www.kmsk.ch.(sib)