Pflegeboomer sind im Anmarsch
Spitex-Wettingen-Neuenhof-Geschäftsführer Andreas Kaufmann spricht anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums der Spitex Neuenhof über das Wachstum des Betriebs, exorbitante Lohnforderungen und immer schwerere Fälle.
Die Spitex Neuenhof kann 2024 einen runden Geburtstag feiern. Deren Ursprung geht ins Jahr 1924 zurück. Vor 100 Jahren riefen der katholische Frauenbund in Zusammenarbeit mit dem damaligen Pfarrherrn Franz-Xaver Seiler den Haus- und Krankenpflegeverein ins Leben. Katholische Mitglieder sollten so eine Betreuung zu Hause bekommen. Die Pflege übernahmen Ordensschwestern des Klosters Menzingen. Aus der Gruppe von Freiwilligen ist heute ein Betrieb mit über 85 Angestellten geworden.
Seit 2016 kümmert sich die Spitex Wettingen-Neuenhof vereint um die Pflege zu Hause in den beiden Gemeinden. Aktuell betreut sie durchschnittlich 350 Klientinnen und Klienten und liefert täglich über 100 Mahlzeiten aus. Tendenz steigend. Denn: Das Lebensende wollen die Menschen wenn möglich in den eigenen vier Wänden und nicht im Heim oder im Spital verbringen. Die Pflege zu Hause hat sich im letzten Jahrzehnt denn auch verdoppelt. Eine Entwicklung, welche die Spitex Wettingen-Neuenhof vor Herausforderungen stellt. Knapp zwei Jahre nach dem Einzug ins neue Zentrum an der Hardstrasse 59 in Neuenhof musste der Standort bereits ausgebaut werden. «Wir konnten im ersten Stock Räume dazumieten und dort Büros für die Administration einrichten. Zuvor galt aufgrund des Platzmangels ein Einstellungsstopp», erzählt Geschäftsführer Andreas Kaufmann.
Wie alle Branchen kämpft das Pflegewesen gegen den Fachkräftemangel. «Es ist sehr schwierig, gutes Personal zu finden. Der Arbeitsmarkt für Pflegende ist total ausgetrocknet», sagt Kaufmann. Jede Person, die man anstelle, fehle an einem anderen Ort. Zudem habe eine Lohn-Preis-Spirale eingesetzt, mit der die Spitex Wettingen-Neuenhof und auch andere Spitex-Betriebe schwer mithalten könnten. «Bewerberinnen und Bewerber fordern exorbitante Löhne», so Kaufmann. Man müsse vielen absagen, weil man diese nicht zahlen könne. Der Geschäftsführer erwähnt diesbezüglich Teamleitende, die so viel verlangen, wie Top-Kader-Mitarbeitende bei der Spitex Wettingen-Neuenhof kriegen. «Wenn wir anfangen, derart hohe Löhne zu zahlen, dann müssen wir das Salär aller Mitarbeitenden erhöhen, damit kein Streit im Haus entsteht. Das ist jedoch nicht möglich.»
Nähe zum Kanton Zürichist ein Problem
Eine weitere Schwierigkeit bei der Personalsuche ist die Nähe zum Kanton Zürich. «Dort sind die Löhne durchschnittlich um 30 Prozent höher als bei uns im Aargau.» Verschärft wird die Knappheit aufgrund der Tatsache, dass Patienten aus Kostendruck immer früher aus dem Spital entlassen werden. Die Spitex muss in solchen Fällen oft weiterpflegen. «Einige Patienten kommen in einem schlechten Zustand nach Hause. Wir brauchen deshalb sehr gut ausgebildetes Personal, um diese schweren Fälle richtig betreuen zu können.» Vielfach würden Mitarbeitende vorgängig im Spital Schulungen absolvieren, um sich auf solche Klienten vorzubereiten.
Und auch der Blick in die Zukunft deutet auf einen Andrang. Die «Babyboomer», die geburtenstarken Jahrgänge, werden bald zu «Pflegeboomern». «Die Spitex wird einen grossen Teil dieser Leistungen abfangen müssen. Dies auch, weil es nicht möglich ist, so viele Heimplätze bereitzustellen», sagt Kaufmann. Diese Aufgabe könne man mit genug Personal stemmen. Doch auch da liegt das Problem: «Die Ausbildung von Personal kann aktuell nicht mit dem Wachstum der Klienten Schritt halten.»
Was unternimmt die Spitex Wettingen-Neuenhof, um sich für die grosse Nachfrage zu rüsten? «Wir haben eine grosse Ausbildungsabteilung, die sich um Lernende, aber auch um die Weiterbildung unseres Personals kümmert. Wichtig ist, dass wir eine tiefe Eintrittsschwelle haben, damit viele die Möglichkeit haben, bei uns zu starten», sagt Kaufmann. Gleichzeitig müsse das Personal Perspektiven erhalten. Zudem gelte es, Nachwuchstalente zu erkennen. «Wir konnten beispielsweise schon einige Teamleitende zu Bereichsleitenden befördern.»
Wenn möglich pflegende Angehörige einstellen
Was helfen könnte, ist die aufkommende Angehörigenpflege. Private Spitex-Firmen, die pflegende Familienmitglieder einstellen und für ihre Arbeit entlöhnen, drängen derzeit auf den Markt. «Es ist ein Geschäftsmodell, mit dem sich ohne grossen Aufwand Geld verdienen lässt. Für uns wäre es ein lukratives Nebengeschäft. Wir prüfen derzeit, ob wir auf diesen Zug aufspringen sollen», sagt Kaufmann. Doch er hat auch Vorbehalte. Rechtlich gebe es noch einige offene Fragen. «Wer haftet beispielsweise, wenn den Klientinnen und Klienten etwas zustösst?», will Kaufmann wissen. Zudem stellt er sich die Frage nach der Finanzierbarkeit. «Wenn alle Angehörigen entschädigt werden, die Familienmitglieder zu Hause pflegen, kommt es zu einer Kostenexplosion. Irgendwann müssen die Politik und die Krankenkassen die Notbremse ziehen.»
Kaufmann ist bewusst, dass für die bevorstehenden Herausforderungen nicht nur die Ausbildung und die Nachwuchssuche eine Rolle spielen, sondern auch die Zufriedenheit der Mitarbeitenden essenziell ist. «Unsere wichtigste Ressource ist unser Personal. Diesem müssen wir Sorge tragen», sagt Kaufmann. Er erwähnt in diesem Zusammenhang Mitarbeiteranlässe wie das Weihnachtsessen oder einen Ausflug nach Kloten, bei dem die Belegschaft letztes Jahr hinter die Kulissen des Flughafens blicken konnte. «Das sind schöne Momente, von denen unsere Mitarbeitenden zehren können», sagt Kaufmann. Er will weiterhin für attraktive Arbeitsbedingungen sorgen.
Die flexiblen Dienstmodelle, die Einführung von fünf Wochen Ferien für alle und die guten Sozialleistungen scheinen sich bereits auszuzahlen. Im Januar wurde die Spitex Wettingen-Neuenhof mit dem Schweizer Arbeitgeber-Award prämiert. Damit gehört sie zu den besten Arbeitgeberinnen im Land. Kein schlechtes Argument auf dem umkämpften Arbeitsmarkt für Pflegepersonen.