Trotz Entspannung beim Bund herrscht Notlage

Knapp acht Monate nach Eröffnung der Asylunterkunft in Wettingen sind rund 200 der 230 Plätze belegt. Es leben vor allem Familien und vulnerable Personen aus 10 Nationen im ehemaligen Altersheim. Die sinkenden Asylzahlen haben vorerst keine Auswirkungen auf die Unterkünfte von Kanton und Gemeinden. Im Gegenteil.

Blick ins Schulzimmer des Einschulungsvorbereitungskurses. bär

Es ist kurz nach acht Uhr am Morgen. Vor der kantonalen Asylunterkunft im ehemaligen Alters- und Pflegeheim St. Bernhard sitzen ein Mann und eine Frau auf mit Tüchern belegten Holzpaletten. Sie trinken Kaffee und unterhalten sich. Drinnen ist es ruhig: Die meisten Asylsuchenden sind noch in ihren Zimmern, ein paar wenige bereiten in der Küche ihr Frühstück zu. Das Spielzimmer und der «Chillraum» für Jugendliche einen Stock tiefer ist um diese Zeit noch leer. «Die Kinder und Jugendlichen haben sich diese Räume gewünscht», sagt Julia Ringger, Teamleiterin der kantonalen Asylunterkunft, während sie die Türen aufschliesst. Im Kinderzimmer befinden sich ein Indianerzelt, ein Schaukelpferd aus Holz und Spielsachen; im Raum der Jugendlichen stehen ein Sofa und eine Playstation mit Monitor. «Das meiste sind Spenden aus der Bevölkerung.»

Beim Bezug im Mai seien viele Sachspenden abgegeben worden. Auch Kleider. Ringger öffnet eine weitere Tür. Im Rauminneren sind Hunderte von Kleidungsstücken feinsäuberlich gestapelt und aufgehängt. Vor allem Frauen- und Babykleider seien abgegeben worden. Man freue sich über diese Solidarität aus der Bevölkerung. «Wir sind froh, wenn wir vorher angefragt werden, was wir gerade brauchen können», so Ringger. Die Nachbarschaft engagiert sich auch persönlich: Beliebt ist das gemeinsame Fussballspiel, das ein Mann einmal pro Woche organisiert. Das Übersetzungsangebot und der Deutschkurs werden mittlerweile nicht mehr benötigt, die meisten Asylsuchenden nehmen an Kursen des Kantons teil.

Plan für Reinigungsarbeiten

Julia Ringger steigt die Treppe hoch und tritt in den grossen Aufenthaltsraum neben der Küche. Ein Mann nimmt gerade den Boden feucht auf. Die Asylsuchenden putzen ihr eigenes Zimmer selbst, auch die gemeinsam genutzten Räume werden nach einem vorgegebenen Putzplan von ihnen gereinigt. «Das klappt manchmal besser und manchmal weniger gut, deshalb wird es von uns kontrolliert», sagt Ringger. Sie verlässt den Aufenthaltsraum und öffnet ein Stockwerk tiefer die Türe zum Schulraum. An der Wand hängen die Wappen von Wettingen, dem Kanton Aargau und der Schweiz. Auf dem Tisch liegt eine Karte mit allen Länderwappen. «Guten Morgen, schön bist du da», begrüsst eine der sechs Lehrpersonen einen Oberstufenschüler, der den Schulraum betritt. Zurzeit leben 66 Schulkinder in der Asylunterkunft. Sechs Monate lang werden sie im Einschulungsvorbereitungskurs (EVK) im Haus geschult. Normalerweise wird in dieser Zeit das Asylverfahren so weit abgeschlossen, dass sie von den Unterkünften des Kantons in die der Gemeinden wechseln und damit auch dort die Schulen besuchen. Weil die Asylverfahren zurzeit teilweise deutlich länger dauern und sie von Gesetzes wegen nach 6 Monaten die Regelschule besuchen müssen, haben einige der Kinder nun an die Wettinger Volksschule gewechselt. Sie werden dort in einer separaten Klasse unterrichtet.

Vierfache Mutter aus Albanien

Eine der Asylsuchenden ist die vierfache Mutter aus Albanien. Sie ist vor 13 Monaten mit ihren 4- bis 12-jährigen Kindern in die Schweiz geflüchtet, Wettingen ist ihre vierte Asylunterkunft. Zuletzt lebte sie in der unterirdischen Unterkunft in Birmenstorf. «Zusammen mit acht Familien in einem grossen Raum, wo wir nicht selbst kochen konnten.» Sie sei froh, dass sie nach Wettingen wechseln konnte, auch wenn sie die vielen Leute hier als stressig empfinde. Während der Schulabwesenheit zieht sie sich deshalb in ihr Zimmer zurück. Sie hofft, bald den Status F zu erhalten und mit ihren Kindern in eine Gemeindewohnung umziehen zu dürfen.

«Viele der Asylsuchenden sind traumatisiert und mit sich selbst beschäftigt. Deshalb sind sie froh um Rückzugsmöglichkeiten», sagt Monika Linder, Leiterin Betreuung Region 4, zu der die Wettinger Unterkunft gehört. Weil sie diesen Rückzug in Wettingen dank der vielen Zimmer mit eigener Nasszelle finden, laufe der Betrieb wie erwartet recht ruhig. Ab und zu habe sich in der Nachbarschaft jemand über den Lärm der spielenden Kinder nach 22 Uhr beschwert.

Familien und vulnerable Menschen

In Wettingen sind vorwiegend Familien und vulnerable Personen untergebracht. Von 230 Plätzen sind derzeit rund 200 belegt. Die Personen stammen aus über 10 Nationen, die Hälfte davon aus der Ukraine. Weil die Räumlichkeiten rollstuhlgängig sind, werden Zimmer für Menschen mit Beeinträchtigung freigehalten. Auch wenn die Plätze nicht wie erwartet im Herbst alle gefüllt waren, so dürfe es nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Lage im Asylwesen weiterhin sehr angespannt sei, sagt Michel Hassler, Leiter Kommunikation beim kantonalen Gesundheitsdepartement. Mitte Oktober seien die regulären Männerunterkünfte im Kanton zu 102 %, die Familienunterkünfte zu 93 % und die UMA-Unterkünfte zu 80 % ausgelastet gewesen. Freie Plätze bestehen derzeit fast nur in den acht unterirdischen Notunterkünften.

Unterirdische Unterkünfte nötig

Die Bekanntgabe der Schliessung von einigen Bundesasylzentren aufgrund sinkender Asylzahlen werde vorerst keine spürbare Auswirkungen auf die Zahlen in den Unterkünften des Kantons und der Gemeinden haben – mit Ausnahme des Erstaufnahmezentrums. «Denn Asylsuchende bleiben deutlich länger in kantonalen und kommunalen Strukturen als in den Bundesasylunterkünften», begründet Hassler. «Deshalb werden, wenn nötig, auch weiterhin unterirdische Unterkünfte eröffnet», sagt Stephan Alexander, Leiter Asyl des kantonalen Sozialdienstes, der betont, dass man immer noch in Notlage sei. Insbesondere Personen mit Schutzstatus S würden vom Bund rasch an den Kanton weitergeleitet, der sie auf die Gemeinden verteilt. «Weniger Asylgesuche beim Bund bedeuten deshalb nicht unmittelbar eine Entlastung für die Kantons- und Gemeindestrukturen im Asylwesen.»

Mittlerweile ist es halb zehn Uhr. Eine Frau steht am Eingangsschalter, neun weitere Personen warten dahinter. «Heute ist Zahltag», sagt Julia Ringger. Pro Tag erhalten Erwachsene Fr. 9.50, Kinder einen Franken weniger. Am Mittwoch wird das Geld für eine Woche ausbezahlt. Die Uhrzeit ist also nicht der einzige Grund, warum nun Leben ins Haus eingekehrt ist.

Freiwillige gesucht

Um den Asylsuchenden den Alltag zu erleichtern, werden Freiwillige gesucht, die ihnen zur Seite stehen. Mögliche Einsätze sind Spaziergänge mit Menschen im Rollstuhl, Hilfe beim Deutschlernen, gemeinsam kochen oder stricken, Übersetzungshilfen bei Terminen und Gesprächen, spielen mit Kindern, Unterstützung bei der Arbeitssuche. Gerne werden auch Vorschläge entgegengenommen und geprüft. Die Menschen in der Asylunterkunft sprechen Arabisch, Kurdisch, Persisch, Russisch, Türkisch, Ukrainisch. Kenntnisse in diesen Sprachen sind von Vorteil, aber nicht Bedingung. Interessierte Freiwillige können sich bei Julia Ringger, Leiterin Asylunterkunft Wettingen, melden: ku.wettingen2@ag.ch oder Telefon 062 835 13 51. (zVg)

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