Das Altersheim ist ihr neues Zuhause
Nina Abramovich und vier weitere Flüchtlinge leben seit dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs im Senevita Lindenbaum in Spreitenbach.
Schuhe säumen den Eingang. Ein Badetuch hängt über der Stuhllehne neben dem Pflegebett. Nina Abramovich läuft zum Tisch in der Mitte des Raumes. Bücher und ein Laptop liegen darauf. «Das ist mein Büro», sagt sie und lächelt. Seit April ist das Zimmer im sechsten Stock des Altersheims Senevita Lindenbaum in Spreitenbach das neue Zuhause der Ukrainerin. Abramovich ist eine von insgesamt fünf Flüchtlingen, welche aktuell im Spreitenbacher Altersheim leben.
«Kiew stand dauernd unter Beschuss. Eine Bombe traf unser Nachbarhaus und verwüstete es», erzählt Abramovich vom Krieg in ihrer Heimat und zeigt Bilder eines zerstörten Hauses auf Facebook. Sie und ihre 34-jährige Tochter Lena schliefen wegen der russischen Angriffe im Flur ihrer Wohnung. «Dort hat es tragende Wände, die nicht so einfach einstürzen. Viele Nachbarn und Freunde suchten sich in Kellern oder in Metrostationen Schutz.»
Ihre Tochter blieb wegen einer neuen Liebe in der Heimat zurück
Die unerträgliche Situation bewog Abramovich dazu, Kiew zu verlassen. «Ich versuchte, auch meine Tochter von der Flucht zu überzeugen. Zehn Tage lange redete ich ihr zu und flehte sie an, mit mir mitzukommen», sagt sie. Vergebens. «Sie hatte sich frisch verliebt und wollte sich nicht von ihrem Freund trennen.» Abramovich hält das Handy vor den Mund und spricht ein paar Worte auf Ukrainisch. «Schmetterlinge im Bauch», übersetzt die App. Abramovich zuckt traurig mit den Schultern. Schweren Herzens liess sie ihre Tochter zurück. «Ich bin jetzt zwar hier in Sicherheit, aber meine Seele ist immer noch in Kiew bei meiner Tochter.»
Ihre Flucht und die Begegnungen auf dem Weg in die Schweiz und im Altersheim in Spreitenbach verarbeitet Abramovich in Kurzgeschichten. In Kiew war sie als Journalistin tätig und schrieb für verschiedene Zeitungen meist über Kriminalgeschichten oder soziale Themen. Gerne würde sie in ihrem angestammten Beruf einen Job in der Schweiz finden. Doch Abramovich bleibt realistisch.«Ich habe nicht damit gerechnet, dass mich mein Schicksal je in die Schweiz führen würde. Daher habe ich nie Deutsch gelernt. Ich bin zu jeder Hilfsarbeit bereit», sagt sie. Wichtig sei ihr, eine Beschäftigung und Ablenkung zu haben. «Sonst fällt mir in meinem Zimmer die Decke auf den Kopf.»
Abramovich und den anderen Geflüchteten steht zusätzlich ein Aufenthaltsraum mit einer Küche im Senevita Lindenbaum zur Verfügung. «Ich bin froh, dass ich ein sicheres Dach über dem Kopf habe, und danke dem Staat und den Menschen dafür», sagt sie. Dass die Ukrainerin und ihre Landsleute im Altersheim unterkommen können, hat Philippe Widmer, Geschäftsführer des Senevita Lindenbaum, möglich gemacht. «Als ich in den Medien von den vielen Privaten vernommen habe, die Ukrainerinnen und Ukrainer bei sich zu Hause aufnehmen, kam mir die Idee, dass wir im Altersheim ebenfalls Platz für ein paar Personen hätten. Ich nahm deshalb mit dem Kanton Kontakt auf.»
Ein Flüchtling erledigt Gartenarbeiten im Senevita
Das Altersheim sei für die Unterbringung von Flüchtlingen ideal, findet Widmer. «100 von 134 Zimmern sind aktuell von Bewohnerinnen und Bewohnern belegt. Der ganze sechste Stock ist noch leer und bietet Aufenthaltsräume samt Küche. Hier kann man leben.» Für Widmer ist klar: «Nicht nur Private, sondern auch wir als Altersheim tragen eine kleine soziale Verantwortung.» Für die Beherbergung der Ukrainerinnen und Ukrainer erhält das Altersheim pro Person und pro Nacht 9 Franken ausgezahlt. Die grösste Sorge der neuen Bewohnerinnen und Bewohner des Altersheims sei bei ihrer Ankunft gewesen, dass sie bald wieder abreisen müssten, erinnert sich Widmer. Er versichert: «Die drei Frauen und zwei Männer können sicher bis Ende Jahr bei uns bleiben und müssen nicht woanders hin. Wir haben Kapazität für fünf bis sechs Personen.» Einer der Männer hat unterdessen eine befristete Stelle als Schweisser in einer Firma in Spreitenbach gefunden. Der andere wurde sogar im Senevita angestellt. «Er erledigt für uns kleine Gartenarbeiten und erhält dafür einen kleinen Lohn von uns», sagt Widmer. Die Seniorinnen und Senioren im Haus und deren Angehörige wurden über die Anwesenheit der ukrainischen Geflüchteten informiert. «Reaktionen blieben aus. Dafür erhielten wir viele positive Rückmeldungen von Menschen aus Spreitenbach», sagt Widmer. Auch er zeigt sich zufrieden. Die fünf ukrainischen Gäste seien sehr pflegeleicht. «Wir haben sie auf die Gemeindeverwaltung begleitet, um sie anzumelden. Sonst sind sie sehr selbstständig», sagt Widmer. Zwei Wochen nach ihrer Ankunft hätten die Geflüchteten die Geschäftsleitung des Altersheims als Dank zu einem ukrainischen Abendessen eingeladen. «Wir probierten Spezialitäten aus der Ukraine wie etwa die Randensuppe Borschtsch», erzählt Widmer.
Die Kommunikation ist die grösste Schwierigkeit
Das Zusammenleben gestalte sich gut – einzig die Kommunikation bereite Schwierigkeiten. «Sie verstehen kein Deutsch und fast kein Englisch und wir umgekehrt haben keine Ahnung von der ukrainischen Sprache», sagt Widmer. Glück habe man, dass eine Pflegemitarbeiterin ukrainisch und russisch spreche und auch eine Mitarbeiterin auf der Abteilung Soziales der Gemeindeverwaltung Spreitenbach russisch verstehe. Man versuche, sich überdies mit Übersetzungs-Apps zu verständigen, doch auch das funktioniere nicht immer. «Absurd», sagt Nina Abramovich während des Gesprächs mehrmals, als der Übersetzungs-Dienst sinnbefreite Sätze ausspuckt. Auf die Frage, ob sie, sobald der Krieg vorbei sei, wieder in die Heimat zurückkehren werde, antwortet Abramovich: «Wohin soll ich zurückkehren? Ich bin Optimistin, aber ich fürchte, dass Putin Kiew auslöschen wird.»