Als es keine Strassen im Wald gab
Mit 99 Jahren ist Martin Scherer der älteste Einwohner. Der gebürtige Killwangener lebt seit 61 Jahren mit seiner Frau Bernadette in Neuenhof. Ein Besuch.
«M. Scherer Förster» steht unter der Klingel des Reiheneinfamilienhauses in Neuenhof. Während Bernadette Scherer die Tür öffnet, sitzt Martin Scherer bereits am Tisch in der Küche. «Ich bin ein bisschen ‹gwaggelig› auf den Beinen», begründet er und lacht freundlich. Frustriert ist er deswegen nicht – im Gegenteil: «Uns geht es so weit gut, wir bekommen jeden Tag Besuch von unserem Nachbarn.» «Das ist unbezahlbar», fügt seine Frau Bernadette an, die mittlerweile auch am Tisch Platz genommen hat. Auch mit 92 Jahren hält sie den ganzen Haushalt selbst in Schuss und kocht zweimal pro Tag. «Beim Putzen hilft mir meine Nichte einmal pro Woche.»
Das Ehepaar verbringt die meiste Zeit daheim, am liebsten auf dem Gartensitzplatz. Den Führerschein hat Martin Scherer vor fast acht Jahren abgegeben. Zug- und Busfahren sei mit dem Rollator schwierig, unterwegs sind sie deshalb nur noch selten. «Aber wir sind vorher viel gereist, jetzt zehren wir von diesen Erinnerungen», sagt Bernadette Scherer lachend.
Mehr als 32 Jahre als Förster tätig
Als ehemaliger Förster in Neuenhof verbindet Martin Scherer viele Erinnerungen mit dem Wald. Als er mit 33 Jahren sah, dass in Bergdietikon ein Waldarbeiter gesucht wurde, bewarb er sich. Später war er für den Wald in Neuenhof zuständig, wo er bis zu seiner Pensionierung als Förster arbeitete. Eine Forstwartlehre gab es damals noch nicht. Scherer machte vor 67 Jahren einen 13-wöchigen Kurs in Rheinfelden und wurde so Förster. Das Werkzeug mussten er und seine Arbeitskollegen selber mitbringen, Strassen oder Wegschilder gab es keine im Wald. Scherer war auch für die Waldzusammenlegung zuständig, damals war ein grosser Teil des Waldes in Privatbesitz. «Mehr als 50 Personen hatten teilweise mehrere Waldparzellen. Ich mass die Parzellen aus, zählte jeden einzelnen Baum, nahm den Stammumfang auf, teilte den Wald ein und sorgte dafür, dass alle Waldparzellen an eine Strasse angeschlossen waren.» Noch heute wird der Waldbestand aufgenommen, heute elektronisch oder mit Flugbildern.
Als Förster war er auch für den Holzverkauf zuständig. Wer Ortsbürger war, bekam eine sogenannte «Bürgergabe», die anderen mussten das Feuerholz kaufen. Damals war Holz ein wichtiger Brennstoff, «90 Prozent der Bevölkerung heizten damals damit». Einige der Holzöfen hatte er sogar selbst montiert. Ursprünglich war Scherer nämlich Ofenbauer – auch wenn er wegen des Kriegsausbruchs keinen offiziellen Lehrabschluss machen konnte. «Ich hatte schon eine Lehrstelle. Als ich sie antreten wollte, musste mein künftiger Lehrmeister wegen des Kriegsausbruchs ins Militär einrücken, sodass ich die Lehre nicht antreten konnte.» Im Betrieb mitarbeiten durfte er aber trotzdem und war später als Monteur in der ganzen Schweiz unterwegs.
So lernte er auch seine Frau Bernadette kennen, die im Melchtal im Kanton Obwalden mit ihrem älteren und einem jüngeren Bruder und dem Vater aufwuchs. Die Mutter war drei Tage nach der Geburt des Jüngsten gestorben. «Wir hatten zwar immer genug zu essen, aber die Mutter hat schon gefehlt», sagt sie. Prägend war auch der Kriegsausbruch: «Ich war damals sieben Jahre alt und wunderte mich über die Aufregung der Leute. Arbeiter waren gerade dran, eine Wasserleitung zu legen, als sie plötzlich alles zusammenpackten und hektisch davonliefen.» Sie erinnere sich auch daran, dass Lebensmittel knapp wurden. «Geld hatten wir aber auch vorher schon keines.»
Mit zwölf Geschwistern aufgewachsen
Geld war auch in Martin Scherers Familie knapp. Er wuchs als mittleres von 13 Kindern auf einem Bauernhof in Killwangen auf. Einige seiner Brüder lebten auf anderen Höfen, weil es bei ihnen nicht genug zu essen gab. «Manchmal gab es zwei Cervelats, eine für den Vater und die andere teilten Mutter und wir Geschwister untereinander auf.» Eine Dusche oder eine Badewanne hatte es auf dem Hof nicht. Man habe sich entweder am Brunnen beim Stall gewaschen oder draussen in einem Zuber Wasser. «Als ich dann etwas älter war und Geld verdiente, ging ich ab und zu mal ins Thermalbad nach Baden.» Diesen Luxus konnte er sich aber nur selten leisten. In jungen Jahren verdiente er lediglich 50 Rappen pro Woche.
Die beiden wirken beim Erzählen zufrieden – auch wenn sie heute keine grossen Sprünge mehr machen können. Seit 69 Jahren sind die beiden verheiratet, haben drei Kinder, sechs Grosskinder und acht Urgrosskinder. «Wir sind sehr dankbar für sie. Sie sind immer für uns da», sagt Bernadette Scherer. Was ist ihr Tipp für eine gute Beziehung? «Miteinander reden», sagt er und fügt schmunzelnd an: «Und sie machen lassen, wenn sie etwas will.» Schliesslich ist sie eine Macherin, hat geschaut, dass die ganze Familie versorgt ist. Ihr Tipp: «Nie schlafen gehen, wenn eine Uneinigkeit nicht ausdiskutiert ist.»
Fürs Foto posieren die beiden auf dem Gartensitzplatz. Von dort aus sieht man zum Wald hinauf, dort, wo Martin Scherer viele Jahre seines Lebens verbracht hat. «Nicht nur zum Arbeiten, sondern auch zum Pilzsuchen», sagt er und erzählt voller Freude, dass der Sennberg zu seinen Lieblingsorten gehört. «Dort fand ich meistens Steinpilze.» Stundenlang habe er Pilze gesammelt und nach Hause gebracht. So viele, dass Bernadette Scherer sie trocknen und damit einen Vorrat anlegen konnte. Noch heute essen sie gerne Pilze – auch wenn es mittlerweile keine selbst gesammelte mehr sind. «Ich kann alles verwerten», sagt Bernadette Scherer mit Blick in die Küche. Wen wundert es, sie erlebten in jungen Jahren, dass Essen keine Selbstverständlichkeit ist.