«Mensch verändert sich erst, wenn es nicht anders geht»

Als Psychotherapeut hat Stefan Matt so viele Anfragen, dass er Ratsuchende abweisen muss. Bei seinen Resilienzkursen ist die Nachfrage hingegen spärlich. Im Interview sagt der Fachmann, warum er es wichtig findet, sich zu stärken, bevor es brennt.

Psychotherapeut Stefan Matt ist in Neuenhof aufgewachsen und bietet in Wettingen Kurse an, die zu mehr Selbstmitgefühl führen sollen. Melanie Bär

Gemäss dem Berufsverband der Schweizer Psychologen (FSP), dem Sie auch angehören, leidet mehr als jede dritte Person in der Schweiz an einer psychischen Erkrankung. Nur ein Drittel davon erhält Hilfe. Warum? Stefan Matt, eidg. anerkannter Psychotherapeut: Gemäss Verband waren im 2023 knapp 5000 Psychotherapeuten berufstätig, die über die Krankenkasse abrechnen dürfen. Hinzu kommen noch Psychiater. Zu wenig, um den steigenden Bedarf nach Psychotherapien abzudecken.

Gemäss einem vom Bundesamt für Gesundheit in Auftrag gegebenen Bericht werden drei Viertel der Therapieleistungen durch selbstständige Psychotherapeuten wie Sie abgerechnet. Wieso gibt es nicht mehr Psychotherapeuten, ist der Beruf nicht attraktiv? Es kann ein sehr belastender, aber auch ein grossartiger Job sein. Dass es zu wenig Psychotherapeuten gibt, liegt meines Erachtens mitunter an der Ausbildung. Nach dem rund fünfjährigen Psychologiestudium an der Universität kommt eine etwa nochmals so lange berufsbegleitende Therapieausbildung dazu. Dieser zweite Teil kostet bis zu 70 000 Franken. Diese Kosten bezahlt man selbst. Nicht jeder kann sich das leisten – weder zeitlich noch finanziell.

Im Juli 2022 hat der Bund vom Delegations- zum Anordnungsmodell gewechselt. Seither müssen Psychotherapeuten nicht mehr bei einem Psychiater angestellt sein, um ihre Leistungen über die Grundversicherung der Krankenkasse abrechnen zu können. Was ist der Vorteil? Der Modellwechsel ermöglicht, dass mehr Hilfesuchende schneller einen Therapieplatz finden – auch wenn noch immer ein Mangel an Therapieplätzen besteht. Vorher wurden unsere Leistungen über eine Zusatzversicherung gedeckt oder selbst bezahlt, wenn wir nicht bei einem Psychiater angestellt waren. Ich arbeite seit drei Jahren selbstständig in einer Gemeinschaftspraxis in Zürich mit anderen Therapeuten zusammen und habe das Pensum auf 80 Prozent gesteigert.

Als Psychotherapeut sind Sie gefragt und können nicht alle Patientinnen und Patienten, die eine Therapie möchten, behandeln. Nach welchen Kriterien nehmen Sie Patienten auf? Ich habe eine Zusatzausbildung als Sexualtherapeut. Anfragen in diesem Fachbereich berücksichtige ich grundsätzlich prioritär, weil es da weniger Therapeuten gibt. Ansonsten nehme ich die Anmeldungen nach Eingang. Am Anfang führte ich eine Warteliste. Damit habe ich aufgehört, weil die Leute in der Regel schnell Hilfe brauchen und ich mit der Warteliste der Dringlichkeit der Anliegen nicht gerecht werden konnte.

Wie schwierig ist es, nicht alle Anfragen berücksichtigen zu können? Natürlich wäre es wünschenswert, wenn allen sofort geholfen werden könnte. Ich weiss aber, dass die Selbststruktur bei überarbeiteten Menschen nachlässt und achte deshalb darauf, nicht zu viele Patienten aufzunehmen. Während einer Behandlung treten Ohnmachtsgefühle oder auch andere schwierige Gefühle auf, sowohl bei den Patienten als auch bei mir selber. Wenn sie mir beispielsweise von ihrem massiven Verlust erzählen, reagieren meine Spiegelneuronen und ich nehme den Schmerz des Gegenübers intensiv wahr. Auch wenn es nicht mein eigener Schmerz ist, ist er deutlich spürbar. Da muss ich mich auch immer wieder gut selber versorgen und abgrenzen können. Das gelingt nicht, wenn man überarbeitet ist.

Wie machen Sie das? Ich behandle beispielsweise nicht vier schwer depressive Menschen nacheinander. Und ich baue Pausen ein. Ich kenne niemanden, der 100 Prozent als Psychotherapeut arbeitet, es ist zu belastend. Als Ausgleich mache ich Musik, lese, meditiere, gehe schwimmen und pflege soziale Kontakte.

Wie gehen Sie damit um, wenn Patienten Suizidgedanken haben? Ich gebe in der Therapiestunde mein Bestes. Doch ich bin mir auch bewusst, dass die Verantwortung nicht ganz alleine bei mir liegt. Suizidgedanken von Patienten stellen durchaus einen Teil der Psychotherapie dar; das gehört zum Berufsalltag dazu. Über solche Gedanken zu sprechen, wird von Patienten sehr oft als erleichternd erlebt.

Was ist vor einer Therapie zu beachten? Ich empfehle den Patienten immer, vor Beginn einer Therapie beim Hausarzt eine grosse körperliche Untersuchung zu machen, um eine medizinische Erklärung für das Leiden auszuschliessen. Eine Unterfunktion der Schilddrüse oder hormonelle Schwankungen können beispielsweise auch zu psychischen Symptomen führen.

Sie sind nicht nur Psychotherapeut, sondern leiten in Kursen auch an, die Resilienz zu stärken. Die Nachfrage ist allerdings gering; warum kommen die Leute erst, wenn es schon brennt? Menschen sind Gewohnheitstiere und verändern sich erst, wenn es nicht mehr anders geht. Ich biete MSC-Kurse (Mindful Self-Compassion, zu deutsch achtsames Selbstmitgefühl) an. Gesunde Menschen lernen, freundlicher mit sich selbst umzugehen. Ein kritisches Urteilsvermögen ist gut, aber die allzu starke selbstkritische Stimme im Kopf ist nicht hilfreich. Das Achtwochenprogramm, Selbstmitgefühl zu lernen, wurde von Christopher Germer und Kristin Neff entwickelt. Die beiden Wissenschaftler haben empirisch nachgewiesen, dass, wer weniger kritisch und hart mit sich selbst umgeht, als Folge gelassener, resilienter und weniger anfällig auf psychische Erkrankung ist.

Dann braucht es Sie als Psychotherapeut nicht mehr ... Für mich sind die Kurse eine Herzensangelegenheit und Friedensarbeit. Es ist mein Ziel, Leute dazu anzuleiten, wohlwollend mit sich selbst und anderen umzugehen. Das Bedrohungs-, Anreiz- und Spielsystem ist im Hirn ständig aktiv. Selbstfürsorge beruhigt diese Hirntätigkeit und fördert unser Ruhesystem. Es braucht allerdings Zeit, diese positive Grundhaltung sich selbst gegenüber einzuüben. Die Kurse sind weder Therapie noch Beratung, doch können sie komplementär in Anspruch genommen werden. Wir zeigen den Teilnehmenden Übungen, die sie im Alltag kultivieren können.

Wenden Sie diese Methode auch in der Therapie an? Mitgefühl ist auch in der klinischen Arbeit eine Grundlage für mich. In einer Depression ist man jedoch zu sehr im Bedrohungsmodus und es ist schwierig, das anzuwenden. Ich wende die Übungen auch bei mir selbst an. Es war ein Gamechanger – auch für meine Arbeit. Um für meine Patienten da sein zu können, ist es wichtig, dass es mir gut geht.

Was ist die wirkungsvollste Übung auf dem Weg zu mehr Widerstandskraft? Eine universelle Antwort gibt es da nicht, die wirkungsvollste Übung ist für jeden und jede von uns sehr individuell. Auf jeden Fall sind aber die drei Elemente des Selbstmitgefühls-Konzeptes dabei hilfreich: Achtsamkeit, der Aspekt des gemeinsamen Mensch-Seins und die freundliche Haltung uns selbst gegenüber.

Zur Person

Stefan Matt ist in Neuenhof aufgewachsen, hat sich an den Universitäten Zürich, Bern und Basel zum Psychologen, Therapeuten und in der Sexualmedizin ausbilden lassen. Bevor er sich vor drei Jahren als Psychotherapeut selbstständig machte, hat er unter anderem an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, an der Universität Bern und am Forensischen Institut Ostschweiz gearbeitet. Vergangenes Jahr liess er sich zum «Mindful Self-Compassion»-Kursleiter ausbilden. Am 19. Oktober startet ein achtwöchiger Kurs in Wettingen, der von Stefan Matt und Corinne Lüthi geleitet wird. Infos: www.msc-selbstmitgefuehl.org/kurse. Matt ist 37-jährig, lebt in Zürich und ist in einer Partnerschaft.(bär)

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