Sie hilft kreativ durch Krisen

Simone Müller ist Kunsttherapeutin. In ihrem Atelier in Wettingen kann Belastendes gestalterisch verarbeitet werden.

Simone Müller betreibt seit zwölf Jahren ihr eigenes Atelier. Sibylle Egloff
Simone Müller betreibt seit zwölf Jahren ihr eigenes Atelier. Sibylle Egloff

«Hinter jeder Malspur verbirgt sich eine persönliche Geschichte», sagt Simone Müller und streicht über ihre Malwand, die mit zahlreichen Schichten Farbe bedeckt ist. Die Wand ist das Herzstück ihres Ateliers an der Seminarstrasse 99 in Wettingen. Hier betreibt die 49-Jährige Kunsttherapie. «Das ist ein Oberbegriff. Darunter versteht man alle kreativen Therapien wie etwa Bewegungs-, Mal- oder Musiktherapie.» Müller fokussiert sich auf intermediale Therapie. «Das heisst, dass ich mit diversen Medien arbeite. So starten Klienten zum Beispiel mit dem Malen, gestalten dann mit Ton und drücken sich danach mit Bewegungen aus.» Dabei gehe es darum, seine Gefühle oder seinen Zustand auf eine andere Art und Weise auszudrücken als im Gespräch.

«In jedem Menschen steckt der Wunsch, sich wohl und sicher zu fühlen, mit sich im Frieden zu sein und Sinn im Leben zu finden. Hier setzt jede Therapie an. Was die Kunsttherapie besonders macht, ist, dass sie mit unseren inneren Bildern arbeitet. Über 60 Prozent unserer täglichen Hirnarbeit sind bildliche Vorgänge», sagt Müller. Bilder würden einen grossen Teil des bewussten und unbewussten Lebens bestimmen. «Daher ist es so effektiv, über das Bild zu arbeiten. Während des Gestaltens werden sicht- und erlebbare Veränderungen möglich.» So könne man zum Beispiel ein schwieriges oder trauriges Bild in Ordnung bringen oder es so verändern, dass man sich dabei wieder wohler fühle. Was auf den Bildern passiere, passiere auch im Innern der Klienten.

In Müllers Atelier kommen Menschen mit unterschiedlichen Anliegen. «Vielfach befinden sie sich in einer akuten Krise. Manche haben ihren Job verloren, andere sind überfordert und wieder andere fassen nach einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik wieder Fuss zu Hause und wollen sich etwas Gutes tun», erzählt die gebürtige Luzernerin, die seit zwölf Jahren in Wettingen lebt.

In ihrem Atelier kann man den Kopf ausschalten

Müller bietet ihren Klienten einen Rahmen, um sich auszudrücken. Ganz wichtig dabei: den Kopf ausschalten. «Das Kreative kommt bei vielen zu kurz. Bei mir erhalten sie den Raum, eine andere Seite von sich zu entdecken oder wiederzubeleben. Die Gedanken werden ruhiger. Das ist für viele ein befreiendes Gefühl.» Zum Malen und Gestalten hinzu kommen teilweise auch körperbasierte Achtsamkeitsübungen wie etwa Atemübungen oder Körper- und Bilderreisen. Müller arbeitet auch mit Personen, die an Traumafolgen leiden. So zum Beispiel mit Menschen mit Essstörungen, die oft Schwieriges erlebt haben. «Im Zentrum stehen dabei die Stabilisierung und die Stärkung der Widerstandskraft. Man soll sich sicherer fühlen und seine Emotionen besser steuern können.» Es gehe darum, ein Fundament zu schaffen, um Belastendes auszudrücken und richtig einzuordnen, sagt Müller. Solche Symptome seien als normale Reaktionen auf ein aussergewöhnliches Ereignis in der eigenen Biografie zu verstehen.

Müller denkt dabei aktuell an die Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine flüchten. «Seine Heimat und alles Bekannte hinter sich zu lassen, sich womöglich noch von geliebten Menschen zu trennen, stellt eine der grössten Unsicherheiten dar, die man sich vorstellen kann.» Und auch wenn diese Leute nun Zuflucht in der Schweiz und anderen Ländern finden würden, so blieben die Folgen eines Traumas meist bestehen. «Das Problem bei einem Trauma ist, dass es zwar in der Vergangenheit stattgefunden hat, es jedoch nicht so im Hirn abgespeichert wurde. Laute Geräusche lassen Erinnerungen an den Krieg wieder aufleben, als würde es unmittelbar passieren, obschon man sich nun in Sicherheit befindet», sagt Müller. Mithilfe des Gestaltens und Malens könne man versuchen, diesen Traumata kreativ zu begegnen. Ziel sei es, sie gestalterisch auszudrücken und zu verändern und so im Gehirn den Eindruck zu hinterlassen: Es ist vorbei.

Ihre Grossmutter machte sie auf die Kunsttherapie aufmerksam

Zur Kunsttherapie fand Müller im Alter von 24 Jahren. Damals war sie noch als Pflegefachfrau tätig. «Menschen haben mich schon immer interessiert. Ich habe aber gemerkt, dass mich psychische Vorgänge mehr reizen und ich mich nicht nur auf das körperliche Wohl beschränken will.» Als Müllers Grossmutter sie auf einen Artikel zum Thema Maltherapie aufmerksam machte, informierte sie sich und entschloss sich, diesen Weg einzuschlagen.

Zu ihren Stationen gehörten psychiatrische Institutionen in Bern und Zürich. In Berlin leitete sie Kunsttherapie in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie, zurück in der Schweiz eröffnete Müller vor zwölf Jahren ihre eigene Praxis. Gleichzeitig arbeitete sie bis vor Kurzem am Universitätsspital Zürich mit jungen Erwachsenen im Zentrum für Essstörungen. «Und nun bin ich etwas kürzergetreten, um Raum für Neues oder einfach mehr Zeit für mich zu schaffen», sagt Müller. Sie könne sich gestalterische und therapeutische Kollaborationen vorstellen. An der Kunsttherapie hält sie jedoch fest. «Ich freue mich, zu sehen, wie Menschen sich noch während der Therapie von Altem befreien und zu einem erfüllteren Leben finden. Auch nach all den Jahren ist die Kunsttherapie für mich eine herausfordernde und befriedigende Arbeit, sozusagen meine Art von Friedensarbeit.»

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