Stressfreies Einkaufen hilft nicht nur Autisten
Seit Mitte Februar wird in den Spar-Filialen Wettingen und Weiningen dienstags und donnerstags für je zwei Stunden ein ruhiges Shopping-Erlebnis ermöglicht. In der Spreitenbacher Filiale wird das Angebot wegen Umbauarbeiten erst im November eingeführt.
Spar nimmt mit dem Pilotprojekt «Stille Stunden» seit letztem Sommer Rücksicht auf Menschen mit Autismus. Die Aktion ist in Zusammenarbeit mit dem Verein Autismus Deutsche Schweiz entstanden und startete damals in Filialen in Urdorf, Dübendorf, Schöfflisdorf und an der Regensbergstrasse in Zürich. Mittlerweile wird in zwölf Spars im Kanton Zürich und im Kanton Aargau ruhiges und reizarmes Einkaufen ermöglicht. Seit Mitte Februar gelten die besonderen Regeln auch in den Geschäften in Wettingen und Weiningen.
Eigentlich hätten Anfang 2021 auch im Spar Spreitenbach die «Stillen Stunden» eingeführt werden sollen (die Limmatwelle berichtete). Doch wegen Sanierungsarbeiten verzögert sich das Vorhaben. «Das Licht, der Boden, die Kühlanlagen und die Ladeneinrichtung werden erneuert», sagt Hansruedi Schnellmann. Er betreibt die Spar-Filialen in Spreitenbach, Wettingen und Weiningen sowie zehn weitere. Der Umbau beginnt Anfang Oktober. Man habe nicht bereits vorher mit dem Angebot für Menschen mit Autismus starten wollen, sagt Schnellmann. Daher wird das ruhige Einkaufen erst ab dem 1. November in Spreitenbach möglich sein. Anlässlich des Weltautismustags am 2. April testete die Limmatwelle das Angebot im Spar Weiningen.
Um Punkt 15 Uhr verstummt das Radio und das Licht geht aus
Bruno Mars säuselt aus den Lautsprechern, der Scanner der Kasse piepst bei jedem Bar-Code, der über ihn fährt. Kinder warten ungeduldig mit Glace-Stängeln in den Händen. Im Spar Weiningen herrscht reger Betrieb am Dienstagnachmittag. Es ist 15 Uhr, als die Stimmen am Radio plötzlich verstummen. Das Licht in jeder zweiten Regalreihe geht aus. Stromausfall? Fehlanzeige. Die geräuscharme Stimmung ist gewollt. Von 15 bis 17 Uhr gelten jeden Dienstag und jeden Donnerstag von 18.30 bis 20 Uhr im Supermarkt im Dorfkern die «Stillen Stunden». Diese sorgen für ruhiges Einkaufen, das vor allem Menschen mit Autismus zugutekommen soll. Das bedeutet: keine Musik, keine Ladendurchsagen und reduziertes Licht. Zudem findet sich online der Sortimentplan der 250 Quadratmeter grossen Filiale, damit sich Menschen mit Autismus oder Beeinträchtigung auf den Einkauf vorbereiten können. Es wird aufgezeigt, wo welche Produkte zu finden sind, aber auch, wo es nach Kosmetika oder Waschmittel riechen oder wo es wegen der Gefriertruhen kalt sein könnte.
Der Unterschied ist frappant. Von einem Moment auf den anderen ist es sehr still im Geschäft an der Regensdorferstrasse. Einzig die Kühltruhen knattern. Und der Verkehr draussen im Weininger Nadelöhr bei der «Linde»-Kreuzung macht sich noch deutlicher bemerkbar, vor allem, wenn man am Fenster bei der Gemüse- und Früchteauslage steht.
Anthony Adekoya trägt nun eine gelbe Leuchtweste mit Piktogrammen über seinem roten Hemd. So ist sofort ersichtlich, dass er ein Spar-Mitarbeitender ist. Der Detailhandelsfachmann und seine Kollegen nehmen sich während der «Stillen Stunden» noch mehr Zeit für die Kundinnen und Kunden. Er findet das Projekt eine gute Sache. «Für Kunden, die zum Beispiel eine körperliche Beeinträchtigung haben, bedeuten laute Geräusche Stress, und auch für ältere Personen ist es angenehmer, wenn sie in Ruhe einkaufen können», sagt der 21-Jährige. Er ist seit letztem Sommer in Weiningen tätig. Davor arbeitete er in einer Spar-Filiale in Wettingen. «Bewohner der Stiftung Arwo in Wettingen kamen oft zu uns. Ich freue mich, dass sie nun auch dort seit Mitte Februar ungestört einkaufen können.»
Er selbst profitiert von der Aktion. «Ich kann in dieser Zeit abkühlen und runterkommen. Ich habe das Gefühl, dass ich fleissiger arbeiten kann.» Adekoya füllt die Regale mit Getränken. Es ist ziemlich dunkel, sodass niemand dem andern ins Einkaufskörbchen starren und erspähen kann, was es wohl zum Znacht gibt. Je weiter man sich ins Innere des Geschäfts begibt, desto ruhiger wird es. Die Hektik auf der Badener- und der Regensdorferstrasse lässt man hinter sich. Die Stille hat eine beruhigende Wirkung. Man fühlt sich fast, als wäre man alleine im Laden.
Die Hektik nach der Arbeit im Spar hinter sich lassen
Eine positive Zwischenbilanz zieht auch Betreiber Schnellmann. «Unsere Kundschaft reagiert positiv auf die geräuscharme Welt.» Die Leute würden die Atmosphäre schätzen. «Vor allem, wenn sie nach einem hektischen Tag nach der Arbeit zu uns in den Laden kommen, dann können sie den Stress hinter sich lassen», sagt Schnellmann. Auch ältere oder gehörlose Leute sowie Personen mit lichtempfindlichen Augen würden sich während der «Stillen Stunden» wohl fühlen. «Die Mitarbeitenden können besser auf sie eingehen, und sie müssen beispielsweise nicht mehr mit Sonnenbrille einkaufen gehen.»
Schnellmann las von einem ähnlichen Projekt in Neuseeland in der Zeitung und war auf Anhieb begeistert. Als der Verein Autismus Deutsche Schweiz mit der Idee auf ihn zukam, willigte er sofort ein. «Es ist gut, dass es Einrichtungen und Institutionen für Beeinträchtigte und Autisten gibt, aber es ist auch wichtig, dass sie am gesellschaftlichen Leben in der Schweiz teilnehmen können. Sie gehören auch dazu», findet Schnellmann. Er wolle einen Beitrag zur Inklusion leisten. «Viele leben bereits abgeschottet. Sie sollen nicht nur online einkaufen, sondern eben auch die Möglichkeit haben, in einen Laden zu gehen und ein bisschen unter Leute zu kommen.» Dabei helfe der Sortimentplan. «Menschen mit Autismus nehmen die Welt anders wahr. Bestimmte Reize wie Licht, Musik oder Geschmack lösen Stress in ihnen aus. Wenn sie sich mit Hilfe des Plans darauf vorbereiten können, erleichtert ihnen das den Gang in den Spar», sagt Schnellmann.
Erfreut zeigt sich auch der Verein Autismus Deutsche Schweiz, der die Aktion ins Leben gerufen hat. «Die Reaktionen sind allgemein sehr positiv. Eine Umfrage, die wir im Oktober 2020 durchgeführt haben, hat dies bestätigt», sagt Geschäftsleiterin Regula Buehler. Verbesserungspotenzial habe es bei den Zeiten gegeben. «Früher fand das Angebot zwischen 13 und 15 Uhr statt. Für viele war das eher ungünstig, deshalb werden die ‹Stillen Stunden› neu dienstags von 15 bis 17 Uhr und donnerstags von 18.30 bis 20 Uhr durchgeführt.» Kontaktiert wurde der Verein sogar von Betroffenen und Angehörigen aus Deutschland. «Sie haben von unserem Projekt gehört und hoffen, dass es dort auch bald so ein Angebot geben wird», sagt Buehler. Schade sei, dass bisher keine weiteren Detailhändler als Partnerorganisationen für die «Stillen Stunden» gewonnen werden konnten. «Auf diverse Anfragen konnten zwar erste Gespräche geführt werden, unsere Anfragen wurden bisher aber leider negativ beantwortet.»
Buehler will jedoch nicht aufgeben. «Inklusion und Selbstbestimmung sowie die Sensibilisierung der Bevölkerung sind wichtig. Das ist nur möglich, wenn Betroffene auch Teil des täglichen Lebens sein können und gesehen werden», sagt die Geschäftsleiterin.
«Online-Einkauf, sofern ihnen dieser überhaupt möglich ist, führt uns diesem Ziel nicht näher», sagt Buehler. Eine reizarmere Umgebung werde nicht nur von autistischen Menschen, sondern auch sonst von vielen Personen gewünscht. «Wenn wir dieses Ziel über das Projekt ‹Stille Stunden› erreichen, können nicht nur ältere Menschen oder Personen mit anderen Beeinträchtigungen, sondern auch wir alle von ein bisschen mehr Ruhe in unserem Leben profitieren.»
Mitarbeitende klären verwirrte Kundschaft auf
Die neue Einkaufsatmosphäre im Spar Weiningen sorgt für Fragen. «Vor allem für Schülerinnen und Schüler, die oft nach der Schule bei uns vorbeikommen, ist das reduzierte Licht verwirrend. Wir erklären ihnen dann, was es damit auf sich hat», sagt Spar-Mitarbeiter Adekoya. Auch an diesem Nachmittag sind sich einige Kundinnen und Kunden nicht bewusst, was die «Stillen Stunden» zu bedeuten haben.
Zwei Frauen unterhalten sich angeregt an der Kasse, sie lachen laut. Ein Mitarbeiter macht sie darauf aufmerksam, dass sie das Volumen etwas runterschrauben sollen. Etwas verdutzt folgen sie der Aufforderung. Die Schiebetüren öffnen sich, die Sonnenstrahlen und der Motorenlärm holen einen zurück in die laute und helle Welt. Insgeheim wünscht man sich, dass man irgendetwas im Spar vergessen hat und nochmals eine Portion Stille tanken kann.