Durchhaltewille der Kinder sinkt
An einem Vortrag erhalten Betreuungspersonen Tipps, wie sie mit der abnehmenden Frusttoleranz von Kindern umgehen können.
In der Spielgruppe Schnäggehüsli, einem ehemaligen Kindergarten an der Zentralstrasse, brennt am Montagmorgen, kurz vor sieben, bereits Licht. Auf den Tischen liegen orange Blätter, auf denen ausgeschnittene Kreise zu einer Raupe geformt aufgeklebt sind. Anny De Rinaldis holt Farbstifte und stellt sie dazu. Im Regal stehen Bücher und Kartonboxen mit Spielen, am Boden Plastikspielsachen und an der Decke hängen gebastelte Sterne. Seit über 30 Jahren ist die 54-Jährige als Spielgruppenleiterin tätig. Als junge Mutter hatte sie sich damals entschieden, ihren Job bei einer Bank aufzugeben und sich umzuschulen. «Die Arbeit mit den Kindern ist meine Leidenschaft», sagt sie und fügt an, dass sie nicht nur 2- bis 5-Jährige beim ersten Ablösungsprozess begleitet, sondern auch Eltern dabei unterstützt.
Tipps zu Erziehungsthemen
Am Montag erhalten Eltern mit Kindern bis 10 Jahre Tipps und Tricks zu diesen und weiteren Erziehungsthemen. Die psychologische Beraterin Rita Wahrenberger hält in den Räumlichkeiten der Spielgruppe seit zwanzig Jahren Vorträge zu Erziehungsthemen, seit der Coronapandemie auch online.
Gerade junge, berufstätige Eltern würden diese Art von Weiterbildung bevorzugen. Allerdings sehen die beiden Frauen auch viele Vorteile am persönlichen Austausch vor Ort. «So entstehen Freundschaften und Eltern merken, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine sind.»
Durchhaltewille sinkt
Eine Herausforderung sei, dass sich Kinder nur noch schwer für etwas begeistern lassen, schnell das Interesse verlieren. «Diese Tendenz stelle ich auch in der Spielgruppe fest. Noch vor zehn Jahren haben die Kinder beispielsweise über mehrere Wochen an einem Puzzle gearbeitet, bis es schliesslich ganz zusammengesetzt war», sagt De Rinaldis. Mittlerweile hätten die meisten Kinder nach ein-, zweimal keine Lust mehr weiter daran zu arbeiten, und lassen es unfertig stehen. «Neugier an Neuem ist immer noch da. Aber die Kinder haben keinen Durchhaltewillen mehr.» Sie sieht einen Zusammenhang mit dem zunehmenden Medienkonsum und einer Reizüberflutung.
Wahrenberger pflichtet bei. Sie berät Eltern auch in Einzelcoachings und hört immer wieder, dass die Frusttoleranz der Kinder abnimmt. «Kinder haben alles ausser qualitative Zeit von den Eltern.» Sie rät Eltern deshalb, sich jedem Kind täglich mindestens zehn Minuten ungeteilt und intensiv zu widmen. Das bedeute nicht, dem Kind abzunehmen, was es selbst könne, sondern das Kind zu fragen, was es gerne zusammen tun will, und sich dann bewusst Zeit dafür zu nehmen.
Sich Zeit fürs Kind nehmen
Eine Eins-zu-eins-Betreuung kann De Rinaldis zwar nicht bieten, acht bis zehn Kinder sind pro Halbtag anwesend. «Trotzdem merken die Kinder, dass ich für sie da bin. Das ist ganz wichtig, um Vertrauen aufzubauen.» Auch wenn es manchmal grosse Geduld erfordere. Sie erzählt von einem Kind, das monatelang nicht an den gemeinsamen Aktivitäten mitmachte, sondern abseits der anderen für sich alleine spielte und Znüni ass. «Ich habe das akzeptiert und ihm immer wieder Angebote gemacht, bis es schliesslich von sich aus kam und mitmachte.»
Erziehen, ohne zu schimpfen
Bei den Vorträgen am 18. März vor Ort und am 25. März online stehen die Themen «Schimpfen» und «Bestrafen» im Fokus. Die Spielgruppenleiterin erlebt immer wieder, dass Eltern ihre Kinder beim Bringen oder Abholen mehrfach zurechtweisen, ihm sagen, was es tun und lassen soll. «Wenn das vor anderen Anwesenden immer wieder passiert, fühlt sich das Kind blossgestellt. Besser wäre, eine Konfliktsituation zu unterbrechen und das Verhalten später unter vier Augen mit dem Kind zu reflektieren», so Wahrenberger. In der Spielgruppe Schnäggehüsli interveniert De Rinaldis, indem sie sich zu den streitenden Kindern gesellt und für Verständigung sorgt. Wahrenberger erklärt, dass es nicht darum gehe, Gefühle wie Traurigkeit oder Wut zu unterdrücken, sondern auf Emotionen und Bedürfnisse einzugehen und das Kind zu unterstützen, damit es Resilienz entwickeln könne.
«Strafen und Belohnen ist keine wertvolle Erziehungsmassnahme»
Wahrenberger erlebe, dass Eltern manchmal so lange nicht reagieren würden, bis sie selbst gestresst seien und dem Kind dann drohen. «Strafen und Belohnen ist keine wertvolle Erziehungsmassnahme. Um diese Konsequenz zu verhindern, wird das Kind nämlich das Verhalten künftig einfach versteckt machen», sagt Wahrenberger. Auch sie rät Eltern, Grenzen zu setzen, dem Kind zu zeigen, wenn es zu weit gegangen ist. Jedoch nicht mit Liebesentzug, sondern mit einer «natürlichen Folge», wie die psychologische Beraterin es nennt: «Sie unterstützen, gemeinsam eine Lösung zu finden. Und wenn sie das nicht können, das Spiel unterbrechen, manchmal hilft auch etwas Distanz.»
Eine «ultimative» Lösung für die abnehmende Begeisterungsfähigkeit und Frusttoleranz der heranwachsenden Kinder haben die beiden Frauen zwar nicht und geben dann doch an: «Vorbild sein ist viel wichtiger, als viel zu reden.» Nicht hilfreich sei, wenn Eltern selbst ständig am Handy seien und keine Zeit hätten.
Freude über Entwicklung
Es ist bereits nach acht Uhr. Wahrenberger verabschiedet sich. Ein paar Minuten später bringt die erste Mutter ihr Kind in die Spielgruppe. Der Bub zieht seine Jacke aus und umarmt seine Mutter zum Abschied. Ehe sie die Garderobe verlässt, rennt er zur Glastür und winkt ihr zum Abschied zu. Dann geht er hüpfend in Spielgruppenraum. De Rinaldis lächelt und erzählt, dass er am Anfang beim Abschied oft geweint hatte. «Es ist schön zu sehen, dass er mittlerweile gerne kommt.» Sagt es und verschwindet, um das nächste Kind zu empfangen.
«Erziehen ohne Schimpfen – ja das geht», Vortrag mit Rita Wahrenberger am 18. März an der Zentralstrasse 93 in Wettingen und am 25. März online, jeweils 19–21 Uhr, 25/40 Franken. Anmeldung bei Anny De Rinaldis unter 079 470 31 31 oder info@schnaeggehuesli.net.