Experte für Gewaltprävention: «Gesellschaft ist heute sensibilisierter»
Christian Huber aus Wettingen führt seit zehn Jahren Projekte in Schulen durch. Wie Gewalt definiert werden kann und was wir alle dagegen tun können, erzählt er im Interview.

Derzeit läuft schweizweit und auf der ganzen Welt die Aktion «16 Tage gegen Gewalt an Frauen». Ist es wichtig, dass man öffentlich über Gewalt spricht? Christian Huber: Ja, es ist gut, dass diese Aktion auf das Thema Gewalt aufmerksam macht. Vor allem aktuell in der Pandemie scheint es mir besonders wichtig, dass es nicht vergessen geht. Die häusliche Gewalt hat seit dem Corona-Ausbruch zugenommen. Kinder sind davon auch betroffen. Wenn die Schulen geschlossen sind, fehlt die Präsenz anderer Erwachsener, die sehen, wenn Schülerinnen und Schüler zuhause leiden. Dafür hat sich aufgrund der Einschränkungen die Gewalt an anderen Orten wie etwa auf dem Fussballplatz oder im Ausgang reduziert.
Sie beschäftigen sich als Experte für Gewaltprävention seit zehn Jahren mit dem Thema und organisieren Projekte und Workshops an Schulen. Würden Sie sagen, dass Gewalt im schulischen Rahmen, aber auch allgemein in der Gesellschaft eher zu- oder abgenommen hat? Ich denke nicht, dass die Gewalt zugenommen hat. Zu den Zeiten unserer Eltern und Grosseltern existierte vermutlich genauso viel Gewalt, doch damals wurde sie eher ignoriert und war daher weniger sichtbar. Deshalb mag es nun den Anschein haben, dass das Phänomen zugenommen hat, weil die Gesellschaft heute deutlich sensibilisierter ist, vor allem bezüglich der Jugendgewalt. Nach gewalttätigen Vorfällen an mehreren Schulen, unter anderem in Zürich Seebach, Anfang der 2000er-Jahre sind Präventionsprogramme entstanden, die Forschung wurde intensiviert und die ersten Schulsozialarbeiter wurden angestellt. Heute gibt es weniger Schulen in der Schweiz, die keine Schulsozialarbeit anbieten. Es wurde so einiges unternommen. Doch vieles bleibt im Argen. Das zeigt der Blick in die Arbeitswelt. Gerade steht das Westschweizer Fernsehen wegen Sexismus- und Mobbing-Vorwürfen in den Schlagzeilen. Diese Diskussion sowie die «Black Lives Matter»- und die «Me too»-Bewegung zeigen, dass es heute deutlich schwieriger ist, Machtstrukturen und Gewalt aufrechtzuerhalten. Man muss eher mit Konsequenzen rechnen. Ein solches Fehlverhalten ist heute nicht mehr so leicht zu verstecken, weil vermehrt hingeschaut wird.
Gewalt hat verschiedene Formen, sie kann psychisch oder physisch sein. Wie würden Sie Gewalt definieren? Es gibt grosse Diskussionen darüber, wie man Gewalt definieren soll. Ob nicht gendergerechte Sprache etwa auch bereits als Gewalt gilt. Bisher ist man noch zu keinem Konsens gekommen. Was man aber sagen kann, ist, dass Gewalt immer etwas Konstruiertes ist. Es ist nicht fassbar wie ein Gegenstand. Es ist ein soziales Phänomen und es hängt davon ab, was verschiedene soziale Gruppen als Gewalt empfinden. Klassisch ist, dass Gewalt einen Schaden auslöst. Der Gewaltakt wird nicht freiwillig ausgesucht so wie beim Boxen oder im Karate und es handelt sich auch nicht um ein zufälliges Ereignis wie ein Unfall, der höchstens fahrlässig erfolgt. Der Schaden kann psychisch oder physisch sein. Neuere Forschungen haben ergeben, dass es Überschneidungen gibt, dass etwa der psychische Schmerz durch Herabwürdigung die gleichen Gehirnareale aktiviert wie bei einem Faustschlag ins Gesicht. Die physische Gewalt ist für die Aussenwelt offensichtlich. Sie hat sichtbare Konsequenzen wie Blutergüsse oder blaue Flecken. Bei der psychischen Gewalt sieht das anders aus. Ausschluss und Mobbing schmerzen, aber wahrgenommen werden sie von aussen nicht. Die Verlagerung ins Digitale schafft nun aber Beweise für psychische Gewalt. Man kann zum Beispiel Screenshots von beleidigenden Kommentaren machen.
Gewalt findet nun also vermehrt in den sozialen Medien als auf dem Pausenplatz statt? Ja, der Ort hat sich verändert, die Themen bleiben dieselben. Oft geht es darum, den Status einer Person in einer sozialen Gruppe herunterzusetzen, dies zum Beispiel, indem die Person von Gruppenchats ausgeschlossen wird. Das Muster ist stets dasselbe. Es gibt einen Haupttäter, der zwei bis drei Mittäter rekrutieren kann. Bei Knaben wird die Gewalt offener ausgetragen, im Kampf um die Hierarchie fällt etwa ein blöder Spruch. Bei Mädchen ist die Gewalt versteckter und subtiler. Das Problem des Cyber-Mobbings ist, dass es den Opfern keine Verschnaufpause verschafft. Denn anders als die Schule hat das Internet Dauerbetrieb. Zudem ist es eine Sphäre, in der Erwachsene schlecht intervenieren können.
Wie geht man gegen Gewalt unter Schülern vor? Technisch unterscheidet man zwischen Prävention und Intervention. Macht man jetzt etwas, damit Probleme künftig gar nicht erst auftreten, oder unternimmt man etwas, wenn die Gewalt bereits da ist? Ich arbeite hauptsächlich präventiv. Dabei gibt es zwei Ansätze: Verhaltens- oder Verhältnisprävention. Erstere richtet sich an den Menschen, die Klasse, Eltern und Lehrpersonen. Ziel ist, eine Verhaltensänderung herbeizuführen. Dazu führe ich Sozialtrainings durch und arbeite zum Beispiel mit Rollenspielen und Geschichten mit den Schülern. Bei der Verhältnisprävention geht es andererseits nicht darum, an die Menschen zu appellieren, dass sie lieb sein sollen. Der Schwerpunkt liegt auf der Veränderung der Verhältnisse. So etwa, dass mehr Spielgeräte und Lehrpersonen auf dem Pausenplatz stehen, damit keine Gewalt aufkommt. Oder dass eine Einrichtung eingeführt wird, bei der man sich anonym melden kann. In der Schule wäre das die Schulsozialarbeit, in der Arbeitswelt eine Ombudsstelle. Wichtig ist auch, ein vertrauensvolles Klima zwischen Schule und Eltern zu schaffen. Je besser deren Beziehung ist, desto weniger hat Gewalt eine Chance. Nicht nur an Schulen oder am Arbeitsplatz kann man Gewalt verhindern, wir alle können dazu beitragen.
Inwiefern denn? Auch wenn Gewalt ein bedrückendes Thema ist, sollte man deswegen nicht frustriert sein und in Trauer verfallen. Wichtig ist, dass wir alle als Teil der Gesellschaft dafür sorgen, dass es anderen Menschen gut geht. Das ist die beste Prävention gegen Gewalt. Das kann auch nur sein, dass wir gute Stimmung verbreiten oder unseren Freunden zuhören.
«16 Tage gegen Gewalt an Frauen»
Die 16 Aktionstage vom 25. November bis zum 10. Dezember finden bereits zum 13. Mal in der Schweiz statt. Sie werden von der feministischen Friedensorganisation cfd koordiniert und dieses Jahr von 100 Organisationen, Kirchen und Einzelpersonen getragen. Seit 1991 haben in über 187 Ländern bislang mehr als 5000 Organisationen die internationale Kampagne unterstützt. Sensibilisierung, Prävention und Hilfe für Betroffene stehen im Zentrum. Die Aktion beschäftigt sich jedes Jahr mit einer anderen Form geschlechtsspezifischer Gewalt. 2020 widmet sie sich dem Thema Mutterschaft und Gewalt. (sib)
Zur Person
Christian Huber ist Bildungswissenschaftler und Experte für soziales Lernen und Gewaltprävention. Nach seinem Soziologiestudium arbeitete er für Gewaltpräventionsprogramme. Seit zehn Jahren führt er an Schulen Projekte durch. Vor drei Jahren machte er sich mit seiner Firma minzgrün selbstständig. Er steht kurz vor dem Abschluss seines Masterstudiums und arbeitet heute als Medienberater an einer Schule sowie als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz. Huber ist 38 Jahre alt und lebt in Wettingen. (sib)