Der Kindergarten, der zur Abgabestelle wurde

Im Kindergarten Zelgmatt werden zurzeit keine Kindergärtler unterrichtet, sondern Hilfsgüter an ukrainische Flüchtlinge abgegeben. Ein Augenschein vor Ort.

Gosha Zaranska (hinten links) mit freiwilligen Helferinnen im Kindergarten Zelgmatt in Killwangen. Melanie Bär
Gosha Zaranska (hinten links) mit freiwilligen Helferinnen im Kindergarten Zelgmatt in Killwangen. Melanie Bär

Donnerstagmittag vor dem Kindergarten Zelgmatt: Etliche Frauen, Kinder und ein paar wenige Männer stehen vor der Tür und warten, bis eine junge Frau sie hereinbittet. Der Garderobenraum des ehemaligen Kindergartens ist mit gegen hundert Paar Schuhen gefüllt. Doch es sind nicht nur Kindergrössen, sondern auch solche für Frauen und Männer. An der Wand hängt eine Ukraineflagge. In Inneren des Gebäudes, wo einst Kinder malten, spielten und sangen, stehen Stangen und Holzgestelle. An Kleiderbügeln aufgehängt oder fein säuberlich zusammengelegt sind Hunderte von Kleidungsstücken nach Geschlecht und Grösse verstaut. Auch Spielsachen, Hygieneartikel, Taschen und Schuhe liegen bereit. Vorwiegend Frauen schauen einen Ständer nach dem anderen durch, nehmen ab und zu einen Artikel heraus und gehen weiter. Unbeachtet sitzen zwei Mädchen am Boden, schieben Murmeln in eine Holzbahn und schauen konzentriert zu, wie sie hinunterrollt.

Mittendrin steht Gosha Zaranska, die Organisatorin der Abgabestelle im Kindergarten. «Geplant habe ich es nicht in diesem Umfang», sagt die 45-Jährige. Sie habe nur vorgehabt, alle Arten von Hilfsgütern in ihrer Garage zu sammeln und in die Ukraine und für ukrainische Flüchtlinge nach Polen zu schicken (die Limmatwelle berichtete).

Riesige Hilfsbereitschaft

Die Humanität der Bevölkerung war riesig: «Innerhalb eines Monats haben wir über 150 m3 Waren gesammelt und konnten sie in die Ukraine und nach Polen schicken», so Zaranska. Darunter auch Kleider. Da dort irgendwann keine Kleider mehr gebraucht wurden und die Zahl der Flüchtlinge in der Schweiz stieg, beschloss Gosha, einen Teil der Hilfe hierher zu verlagern und die Flüchtlinge vor Ort zu unterstützen.

Sie suchte Räumlichkeiten, um die Hilfsgüter zwischenzulagern. Deshalb nahm die polnisch-schweizerische Doppelbürgerin, die seit zehn Jahren in Killwangen lebt, mit der Gemeinde Kontakt auf, die ihr unkompliziert das leerstehende Schützenhaus beim Meierbädli und kurz später auch noch den seit einem Jahr freistehenden Kindergarten zur Verfügung stellte.

«Wir fanden die Aktion von Anfang an sehr gut und waren gerne bereit, sie zu unterstützen», begründet Gemeinderat Martin Kreuzmann das Engagement des Gemeinderats. Er riet ihr, die Aktivität mit dem Kanton zu koordinieren. Ab diesem Monat wird das Angebot im Bulletin der Fachstelle Integration Baden erwähnt.

Seit Anfang April kann man nun montags von 14 bis 19 Uhr sowie samstags von 10 bis 14 Uhr Ware abgeben und am Dienstag und Donnerstag zwischen 10 und 14 Uhr abholen. «Anfänglich wollten wir keine Selektion beim Abgeben machen, doch es kamen so viele Menschen, dass sich die Leute nun als Ukraineflüchtlinge ausweisen müssen», so Zaranska.

Aus der Ukraine geflüchtet

An diesem Donnerstagmittag steht Lana beim Eingang und sorgt dafür, dass sich nicht zu viele Personen auf einmal im Raum befinden. Die 33-Jährige ist eine von fünf Freiwilligen, die an diesem Tag helfen. Sie ist Ende März aus der Ukraine geflüchtet. Alleine. Ihr Bruder durfte als junger Mann nicht ausreisen, die Mutter ist mit ihm dageblieben. «Viele sterben lieber, als dass sie ihr Daheim verlassen würden», weiss sie. Unverständnis schwingt in ihrer Stimme mit. Sie selbst hat sich für die Flucht zu Freunden in die Schweiz entschieden. In den sozialen Medien hat sie von Zaranskas Suche nach Freiwilligen gelesen und sich sofort gemeldet. Sie ist gut ausgebildet, spricht Englisch, Russisch und Ukrainisch, ist nicht verheiratet, hat keine Kinder und deshalb hat sie viel Zeit zum Helfen. Seit Anfang steht sie viermal wöchentlich freiwillig im Einsatz. Ihr Lohn: Wenn sie möchte, darf sie die Kleider durchschauen und etwas mitnehmen, bevor geöffnet wird. Der wirkliche Lohn ist ein anderer: «Durch diese Arbeit kann ich mich beschäftigen, daheim zu sitzen, würde mich verrückt machen. Denn natürlich fühle ich mich schlecht angesichts des Krieges.»

Der Vater blieb

Alle Flüchtlinge, die im Kindergarten Hilfsgüter holen, haben ein solches Schicksal hinter sich. Auch Anna, die am 4. April mit ihrer Mutter und dem 4- und dem 10-jährigen Sohn geflüchtet ist. Nachdem sie einen Monat in Polen verbrachten, leben sie nun in Luzern. Sie nimmt das Handy hervor und zeigt das Bild ihres Mannes. Tränen schiessen nicht nur ihr, sondern auch Gosha Zaranska in die Augen, die übersetzt, weil Anna nur Ukrainisch spricht. Ihr Mann ist Polizist und muss in der Ukraine für die Sicherheit der Bevölkerung sorgen. «Er war froh, als wir flohen, weil er weiss, dass wir jetzt ausser Lebensgefahr sind. Er möchte, dass noch mehr flüchten, weil es schwierig ist, für die Sicherheit der Bevölkerung zu sorgen.» Für die beiden Buben besonders schmerzhaft sei auch, dass sie ihre beiden Hunde zurücklassen mussten. «Deshalb hat er sich darüber gefreut», sagt Anna und zeigt auf einen Rucksack in Form eines Hundes, den der 4-Jährige in der Abgabestelle mitnehmen durfte und nun am Rücken trägt.

Das bleibt auch den Bewohnerinnen und Bewohnern des Zelgmatt-Quartiers nicht verborgen. «Es bewegt mich jedes Mal, wenn ich Kinder mit einem Plüschtier von der Abgabestelle zurückkommen sehe und beobachte, wie sie es an sich drücken», sagt eine Bewohnerin und fügt an, dass sie dafür auch gerne in Kauf nehme, dass zurzeit etwas viel Rummel herrsche, weil der Weg zur Abgabestelle im Kindergarten mitten durchs Quartier führe.

Geschirr, Hygieneartikel, Windeln

Ruhiger geworden ist es hingegen bei der Abgabestelle. «Am meisten brauchen wir im Moment Hygieneartikel für Frauen, Küchen- und Haushaltausstattung, Fahrräder für Kinder, alle Arten von Schulartikeln und auch Taschen, Koffern und gute Kleider sowie Schuhe aller Art», sagt Gosha Zaranska.

«Vorerst werden die Liegenschaften bis zu den Sommerferien zur Verfügung gestellt. Eine mögliche Verlängerung werden wir zeitgerecht mit Gosha Zaranska besprechen und die Bevölkerung darüber informieren», sagt Gemeinderat Martin Kreuzmann. Wie lange sich Zaranska noch so intensiv freiwillig einsetzen kann, weiss die Mutter eines Sohnes nicht. Sie will es so weit strukturieren, dass sie sich langsam zurückziehen und vermehrt den freiwilligen Helferinnen und Helfern übergeben kann.

Hilfe, die auch den Helfenden hilft

Dass Zaranska Zeit hatte, die Sammel- und Abgabestelle aufzubauen, war ein Zufall: Nachdem sie jahrelang für einen internationalen Konzern in Kaderposition gearbeitet hatte, war sie just zu Kriegsbeginn auf Stellensuche und hatte deshalb Zeit.

So wie Lana hat auch Zaranska einen persönlichen Gewinn aus dem freiwilligen Engagement: «Nachdem ich als Auditorin jahrelang darauf fokussiert war, Fehler zu sehen und zu kontrollieren, tut es mir so gut, etwas zu tun, was den Leuten wirklich hilft», sagt Gosha Zaranska, die davon träumt, einen Ort zu schaffen, an dem alle Arten von Kursen, Aktivitäten und sozialen Veranstaltungen für Flüchtlinge angeboten werden können. Sagt es, ehe sie im Kindergarten verschwindet, um einer Frau zu antworten, die auf Ukrainisch eine Frage stellt. Infos: 079 126 36 28, gosiazaranska@gmail.com.

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