«Ich fragte mich: Auf was will ich zurückschauen?»

Markus Hauser ist in Spreitenbach aufgewachsen und lebt heute als Ordensbruder in Baden. Zuvor hat er seinen Job als Manager an den Nagel gehängt und sich von seinem persönlichen Besitz getrennt.

Markus Hauser lebt als Ordensbruder in Baden. Melanie Bär

Markus Hauser lebt als Ordensbruder in Baden. Melanie Bär

Es ist bereits am Eindunkeln, als Markus Hauser in den Brenntweg in der Badener Altstadt einbiegt. Unter der Jacke trägt er ein Kapuzenhemd, in der Hand hält er ein Ganzkörpergewand – alles in braunem Farbton. In der Wohnung angekommen, entledigt er sich der Jacke, zum Vorschein kommt ein rund fünf Zentimeter grosses Metallkreuz, das an einem braunen Lederband um seinen Hals hängt. Spätestens jetzt wird klar, dass es sich beim Gewand in seiner Hand um eine Tunika handelt, die Kirchenleute im Gottesdienst tragen.

Tatsächlich stellt sich der 53-Jährige als Bruder Markus vor. Um in dieser Form leben zu können, hat er im März 2019 den evangelisch-christlichen Orden und ein Jahr später den Verein Sola Gratia gegründet.

Hauser kommt gerade vom Gottesdienst zurück, den er zuvor in der Badener St.-Anna-Kapelle mit «Leuten, die sonst keinen Gottesdienst besuchen», gefeiert hat. Es ist eine einfache Taizé-Andacht mit kurzer Botschaft und Textlesung, viel Gesang und dem Anzünden von Kerzen. «Es wirkt beruhigend und hat meditativen Charakter.» Der Ursprung dieser Art der Andacht kommt von der ökumenischen Ordensgemeinschaft im burgundischen Dorf Taizé.

«Ich will für alle Menschen da sein»

«Als Jugendliche war ich mehrmals in Taizé in den Ferien», sagt Brigitte*, eine der Anwesenden in der St.-Anna-Kapelle. Die Mittzwanzigerin lebt vorübergehend in einem Zimmer des Sozialwerks Hope und ist froh um das Angebot, das ihr Abwechslung in ihren Alltag gibt.

Solche Aussagen freuen Bruder Markus, wie er sich seinen Gegenübern vorstellt. «Ich will für alle Menschen da sein, auch für hoffnungslose Fälle», sagt er. Respektlos meint er das keineswegs. Im Gegenteil – es seien Menschen, die selbst die minimalsten Auflagen wie beispielsweise das Erscheinen an einen Termin nicht erfüllen und so mögliche Unterstützung untersagt bliebe. «Unser Sozialsystem hat seine Berechtigung, ich stelle das gar nicht in Frage. Doch unser Orden ist auf Barmherzigkeit aufgebaut. Deshalb bekommen bei mir Menschen nicht nur eine zweite, sondern eine immer währende Chance, ohne etwas erfüllen zu müssen», erklärt der Vater von vier erwachsenen Söhnen.

Weil diese Haltung sich als angestellter Gassenarbeiter nicht immer vereinbaren liess, hat er keine Festanstellung mehr. Er lebt von Gelegenheitsjobs und von Spenden, die er durch den Verein erhält. Arbeiten tut er trotzdem: Neben den wöchentlichen Gottesdiensten führt er Seelsorgegespräche in Gefängnissen, gibt seinen mehr als 4500 «Freunden» auf Facebook Lebenstipps und führt Projekte durch.

Eines der Angebote ist «Wurst und Brot für Menschen in Not». Letztes und vorletztes Jahr gab es im «Spatzennest», wie er den Hof hinter seiner Wohnung nennt, zwei Wochen lang kostenlos Wurst mit Brot für alle, «die es brauchen können». Die Aktion im Dezember kam nicht nur bei den Beschenkten, sondern auch bei den Schenkenden gut an. Nach Aufrufen auf den sozialen Medien hatten Privatpersonen und Unternehmen wie beispielsweise «Limmatbeck», «Hope» oder «Help for Family» schnell genügend Lebensmittel gespendet. Durchschnittlich kamen täglich zwischen 20 und 30 Besucherinnen und Besucher an den Brenntweg.

Vater war Gemeinderat

Brigitte ist eine von ihnen: «Ich möchte, dass Corona vorbei ist», sagt sie. Seit der Pandemie sind einige andere wohltätige Angebote geschlossen. Es sei nicht nur das Essen, sondern auch die Gesellschaft, die vermisst wird, weiss Bruder Markus. «Es ist ein speziell schöner Ort hier», sagt Besucher Roger* mit Blick auf die Kerze, die Markus Hauser in eine Laterne stellt. Dort, wo er wohne, seien Kerzen nicht erlaubt, Geld für Batterien für künstliche Kerzen habe er nicht. Die beiden Männer beginnen, über Konsum zu sprechen. Darüber, was nötig ist und was nicht. Als Roger sich über die «Reichen, die mit teuren Autos herumfahren» auslässt, entgegnet Bruder Markus: «Ich hatte einen Audi A8 als Geschäftsauto.» Damals sei er erfolgreicher Manager einer Sicherheitsfirma gewesen und habe viele Mitarbeiter geführt. Tagsüber sei er damit beschäftigt gewesen, noch mehr Aufträge und Kunden zu gewinnen. Abends habe er Fernsehen geschaut, um herunterzufahren, den Stress abzubauen. «Doch irgendwann fragte ich mich: Auf was will ich zurückschauen? Darauf, dass ich Aktionäre bereichere?»

Er lässt die Frage unbeantwortet und erwähnt später, dass sein Vater Willi-August Hauser (1910–1972*) Gemeinderat in Dietikon und Spreitenbach war und sich in einer Genossenschaft für günstigen Wohnraum einsetzte. Von der Stadt Dietikon hat sein Vater für dieses soziale Engagement das Ehrenbürgerrecht erhalten. «Vielleicht liegt das Soziale einfach in meinen Genen.»

Mit 25 Jahren auf die Alp

Die Frage zum Sinn des Lebens habe Bruder Markus sich schon als junger Mann gestellt. Als Selbstversuch zog er sich mit 25 Jahren zurück und lebte ein Jahr lang abgeschieden als Selbstversorger in einer Alphütte. «Meine romantischen Vorstellungen vom Leben als Mönch entsprachen nicht der Realität. Im Gegenteil, ich vereinsamte.» Erst als er merkte, dass er sein Glück auch nicht in der Karriere fand, und seine drei Söhne selbstständig waren, suchte er erneut.

Weil er keine Glaubensgemeinschaft fand, die ihn als damals geschiedenen Mann und Vater als Mönch aufnehmen wollte, suchte er kurzerhand Leute, die mit ihm zusammen den Verein Sola Gratia gründeten. Der Verein ist von anfänglich 10 Mitgliedern auf 19 gewachsen. Er verwaltet die finanziellen Angelegenheiten, wenn Geld da ist, und unterstützt Projekte des Ordens.

Haus wird abgerissen

Markus Hauser lebt mit zwei Personen in der Wohngemeinschaft am Brenntweg 1. Eine ist seine Frau, die als Sozialarbeiterin in einem anderen Kanton arbeitet und ein Jahr nach der Gründung zum Orden gekommen ist. Die andere Person ist der Vereinspräsident. Er zieht allerdings bald um, weil er eine neue Stelle als Wohnheimleiter in Zürich antritt. Voraussichtlich im nächsten Jahr müssen auch die anderen eine neue Bleibe suchen – das Haus soll abgerissen werden. Der Verein ist deshalb auf der Suche nach neuen Räumlichkeiten, wo womöglich mehr Menschen als Ordensgemeinschaft zusammenleben könnten. «Wir wären gerne eine grössere WG, doch im Moment haben wir noch kein geeignetes Haus dafür.» Denn ihnen ist wichtig, dass es nicht abgeschieden, sondern im Zentrum bei den Leuten liegt, denen sie dienen wollen.

Vielleicht bald Taizé-Andacht im Hasel

Beunruhigt ist er wegen des drohenden Abbruchs nicht. Manches müsse zuerst wachsen, findet er. Sorgen hätten früher zu seinem Alltag gehört. Heute fühle er sich frei. Sagt es, während er die Würste auf dem Grill dreht und von weiteren Ideen erzählt. Bei der reformierten Kirchenpflege Spreitenbach hat er angefragt, ob die ungenutzte Kirche Hasel (die Limmatwelle berichtete) für die zusätzliche Taizé-Andacht genutzt werden dürfte. «Die Kirchenpflege entscheidet demnächst über den Antrag», so Hauser.

Es ist bereits stockdunkel, als der letzte Gast den Hinterhof am Brenntweg verlassen hat. Bruder Markus begibt sich ins Dachgeschoss der nebenstehenden Mietwohnung, hängt sein braunes Kaputzenhemd und das Metallkreuz an die Garderobe und legt sich zufrieden schlafen.

* Namen geändert

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