Obstgarten wird Durchgangsplatz

Nathalie und Dieter Birchler vor ihrem fahrenden Wohnsitz mit ihrem wertvollsten Besitz – ihrem vergnügten kleinen Sohn. Foto: ska
Nathalie und Dieter Birchler vor ihrem fahrenden Wohnsitz mit ihrem wertvollsten Besitz – ihrem vergnügten kleinen Sohn. Foto: ska

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Angefangen hat alles vor rund zwölf Jahren. «Eines Tages standen zwei jenische Familien vor unserer Haustür und fragten, ob sie zwei Wochen lang auf unserem Gelände bleiben dürfen», berichtet Leo Meier.

Die Fahrenden erfüllten die von Familie Meier gestellten Bedingungen und verliessen die «Chlosterschür» nach zwei Wochen auch wieder. Zwei Tage später klopften dann schon die nächsten Jenischen bei Meiers an. «Das hatte sich bereits herumgesprochen», schmunzelt Leo Meier.

Da die ersten Fahrenden noch auf einem weiter entfernten Landstück Halt machten, sei aber irgendwann die Polizei vorbeigekommen. Also wurde der Standplatz direkt vor das Wohnhaus verlegt und alles war in Ordnung.

Bis vor drei Jahren war der Unterhalt des Durchgangsplatzes von offizieller Seite nur geduldet. «Der Kantonsverantwortliche hat aber gesehen, dass es bei uns gut läuft und alles seine Ordnung hat», erzählt Meier von den Ereignissen, die dazu führten, dass der ehemalige Obstgarten heute offiziell als Durchgangsplatz für Schweizer Fahrende gilt.

Im September 2013 hatte die Gemeindeversammlung der Umzonung in eine «Spezialzone Fahrende» zugestimmt. Und zusammen mit dem Kanton machte sich Familie Meier daran, sanitäre Anlagen für die Besucher zu erstellen und Hecken zu pflanzen. Heute stehen den Nutzern des Platzes in einem bedachten Container Herren- und Damentoiletten, eine Dusche und sogar eine Waschmaschine zur Verfügung. «Denn früher liessen wir die Leute bei uns im Haus waschen», berichtet Leo Meier.

Das Verhältnis zu den Fahrenden auf seinem Gelände bezeichnet Meier als ganz normal. Man grüsse sich, spreche ein paar Worte, und mit Stammgästen werde auch gerne mal zusammengesessen und ein Bier getrunken. «Es ist ein Nebeneinander-, aber auch ein Miteinander-Leben», sagt Meier zufrieden.

Den Platz nutzen dürfen ausschliesslich Jenische, also Schweizer Fahrende. Erst vor einigen Wochen fragten auch Roma an, die er aber abweisen musste, wie Leo Meier berichtet.

Die Jenischen dürfen maximal einen Monat auf dem Platz bleiben und bezahlen eine Benutzungsgebühr und ihren individuellen Stromverbrauch. Der ehemalige Obstgarten bietet Platz für 16 Wohnwagen, ist aber zurzeit nicht voll belegt. «Es möchte noch etwas mehr vertragen», schätzt Leo Meier, der sich wünscht, dass sich das Angebot unter den Jenischen noch weiter herumspricht. Drei bis vier Besucher seien eigentlich immer da, über den Sommer natürlich mehr als im Winter, da einige Jenische in der kalten Jahreszeit einen festen Wohnsitz bevorzugen.

Zu den ganzjährig Fahrenden gehört die junge Familie Birchler. Nathalie Birchler ist eine Jenische, die in einer Wohnung gross geworden ist. «Erst seit ich mit Dieter zusammen bin, habe ich mein fahrendes Erbe wiederentdeckt», berichtet die junge Mutter. Dieter Birchler hingegen kennt nichts anderes, er ist im Wohnwagen gross geworden. Heute ist er als Messer- und Scherenschleifer unterwegs. «Das ist Tradition bei uns – schon mein Grossvater hat dieses Gewerbe ausgeübt», berichtet er stolz.

Dass sie immer noch manchmal mit Roma oder Sinti in einen Topf geworfen werden, ärgert die Birchlers. Es habe aber stark gebessert, sagt Nathalie Birchler und unterstreicht: «Wir sind Schweizer, wie alle anderen auch.» Gerade in seiner Berufsausübung wird Dieter Birchler manchmal noch mit alten Vorurteilen konfrontiert und habe sich auch schon Schimpfwörter anhören müssen und die Tür vor der Nase zugeschlagen bekommen. Viele Menschen seien heute aber auch interessiert und unterhielten sich mit ihm über seine Lebensweise, wie er berichtet. «Wir gehen gern auf Menschen zu», sagt Birchler, auch wenn sie gerade in Würenlos auf dem etwas abgelegenen «Chlosterschür»-Areal eher unter sich bleiben.

Der frisch sanierte Durchgangsplatz gefällt ihnen sehr. «Hier haben wir alles, sogar eine Waschmaschine», freut sich Nathalie Birchler. Einzig an die Äpfel habe sie sich gewöhnen müssen, die nachts von den Obstbäumen auf das Dach des Wohnwagens gepoltert seien.

Die junge Familie ist über den Sommer in der ganzen Schweiz unterwegs und kommt immer wieder gern ins Limmattal. «Einzig der Gubrist nervt», gibt Nathalie Birchler lachend zu.

Die Platzsuche dürfte ihnen in den kommenden Jahren etwas erleichtert werden: Nebst dem existierenden Standplatz in Spreitenbach und den fünf Durchgangsplätzen unter anderem in Würenlos sieht der kantonale Richtplan einen weiteren Stand- und zwei weitere Durchgangsplätze vor.

Für die Zukunft wünschen sich Birchlers mehr Plätze wie den in Würenlos. Und, so sagt Dieter Birchler hoffnungsvoll: «Ich wünsche mir, dass wir Fahrenden mehr willkommen sind.» (ska)

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